West und Ost
Ein von mehreren Reisenden geteiltes Abteil führt nicht immer zu Gesprächigkeit, und ein Gespräch ist auch nicht immer verlockend. Da sitzt Ihnen jemand gegenüber,
sichtbar die Zunge, auf der sich noch Essensreste befinden, die Beine
gespreizt, Bauch und Unterleib auf eine grauenerregende Weise eingezwängt in
eine kurze Sommerhose, da ist man doch erleichtert, wenn er wenigstens schweigt.
Ganz anders die Fahrt nach Mailand, gegenüber im Abteil ein junges Mädchen mit
einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern und
eine Franziskanerschwester, beide von vollendeter Schönheit, beide in ihre
Lektüre vertieft. Zu einem Gespräch kommt es unter diesen Umständen nicht, die
gemeinsame Stille umso beglückender. Ein Fauxpas unterläuft dem Dichter allerdings auf
der Bahnfahrt rheinabwärts, als die Winterkönigin mit der Rezitation eines Gedichts ein
Gespräch anbahnen will, er aber nur dumm und stumm dasteht. Das Gespräch mit
jemandem, der ein Buch liest, von dem noch nie jemand gehört hat und auf das es
keine Hinweise gibt, wäre sicher anregend verlaufen. 1992 fährt er in einem zwischen
Norwich und Lowestoft verkehrenden, mit Ruß und Öl verschmierten Dieseltriebwagen
an die Küste hinunter. Die wenigen Mitreisenden saßen im Halbdunkel auf den
abgewetzten Sitzpolstern, alle in Fahrtrichtung, möglichst weit voneinander entfernt
und so stumm, als hätten sie noch niemals in ihrem Leben ein Wort über die Lippen
gebracht. Anders sieht es aus, wenn ein alle und jeden ergreifendes Thema im
Raum steht, etwa der Unfalltod einer Kinogröße am frühen Morgen im Breslauer Bahnhof. Alle
und jeder hat etwas zu sagen, es schwirrt nur so in den Abteilen und in den
Gängen, Pradera allerdings raucht still seine Zigarette, nicht aus
Gleichgültigkeit, sondern weil der Vorfall ihm zu nahe geht für das Geplapper.
Während über die westeuropäischen Zugabteile eine Art Redeverbot verhängt zu
sein scheint, kommt es in polnischen Zügen auch ohne katastrophale Ereignisse
immer wieder zu einem regen Meinungsaustausch. Gespräche ein wenig über alles, ein Eisenflechter und ein
Friseur geben in dem Abteil die Themen vor, Pradera beteiligt sich kaum, seine Gedanken gehen in andere Richtungen. Eine unbestimmte
Dame anscheinend ohne eigenen Ansichten führt immer an, was ihr Mann zu diesem
oder jenem Problem gesagt hat oder wohl gesagt hätte. Erheblich anders sieht er
in den Nachtzügen aus, Nocna jazda pociagiem, für die der polnische Dichter
sich in der Regel kein Ticket besorgt, er muß aufpassen, daß ihn der Schaffner
nicht überrascht, nur kurze Wortwechsel sind unter diesen Umständen möglich:
Können Sie mir Feuer geben? Bitte sehr. Fahren Sie weit? Bis zur
Endstation, und Sie? Auch bis zum Ende. Wirklich? Das ist großartig. - Die meisten Reisenden schlafen ohnehin.
1 Kommentar:
Ich schweige auf längeren Bahnfahrten immer gern - einmal, weil ich meist einen Lese- oder Schreibplan für die Bahnfahrt habe, zum anderen, weil ich die entsprechenden Pläne der Mitreisenden achten will.
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