Sonntag, 11. August 2019

Theorie des Rechts

Stato di emergenza

Die Vergehen waren zu gewaltig, als daß menschliches Recht sie sühnen könnte, Gott der Herr greift ein, und so ist noch heute, hundert Jahre nach den Kongogreueln, eine in einer verbreiteten Verkrüppelung der belgischen Bevölkerung sich manifestierende Häßlichkeit auffällig, wie man sie anderwärts nur selten antrifft. In Terezín, und in Oświęcim wird es nicht anders sein, kann es nahezu eine Viertelstunde dauern, bis man den ersten Menschen erblickt, eine vornübergebeugte Gestalt in der Regel, die sich unendlich langsam an einem Stock voranbewegt und doch auf einmal verschwunden ist. Sonst begegnet einem den ganzen Morgen in den schnurgeraden Straßen von Terezín niemand außer einem Geistesgestörten in einem abgerissenen Anzug, wild fuchtelnd, ehe auch er, mitten im Davonspringen vom Erdboden verschluckt wird.

Der Rechtsalltag kann den Richter Farrar nicht begeistern, jetzt, im Ruhestand, denkt er mit einem gewissen Entsetzen an das mehr als halbe Jahrhundert, das er in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht hat. Gerade vor dem Hintergrund seiner weit gestreuten Erfahrungen hat er offenbar eine geringe Meinung vom Recht. Die im breiten Publikum populärste Sparte des Rechts ist das Strafrecht. Auch der Dichter ist mit einschlägigen Vorkommnissen konfrontiert worden, so in Holland, wo ein dunkelhäutiger Mensch auf ihn zustürzte, das blanke Entsetzen im Antlitz, verfolgt von einem seiner Landsleute dessen Augen geradezu glänzten vor Mordlust und Wut, ein langes, blitzendes Messer in der Hand. In Mailand wird er selbst Opfer eines versuchten Straßenraubs, kann die beiden Strolche aber mit seiner wehrhaft eingesetzten Reisetasche in die Flucht schlagen. Zu einem Polizeieinsatz oder gar zu einer Anklage kommt es offenbar in beiden Fällen nicht. Dem auf Rechtsgrundlagen beruhenden öffentlichen Verwaltungswesen, einer wesentlichen Komponente des Rechtsstaates, mißt der Dichter offenbar keine größere Bedeutung zu. Eine polizeiliche Bestätigung seines Paßverlustes läßt er sich nur ausstellen, um seine Gastgeber nicht zu enttäuschen, als er den Beleg in der Hand hält, verwandelt er sich ihm in einen Trauschein. Im deutschen Konsulat in der Via Solferino dann widmet er der Artistenfamilie Santini weit mehr Aufmerksamkeit als dem zwergwüchsigen Konsularbeamten auf seinem barhockerähnlichen Stuhl.

Auch beim Jäger Gracchus handelt es sich um einen Rechtfall, einen Fall von Schuld oder Unschuld. Verzweifelt fragt Gracchus, ist das eine Schuld, ich war Jäger, lauerte auf, schoß, traf, zog das Fell ab, ist das eine Schuld? Der große Jäger vom Schwarzwald hieß ich. Ist das eine Schuld? Roberto Calasso geht im Tonfall des Jägers auf die Frage ein und antwortet: Sì, è una colpa. Anzi, è la colpa. Nachdem der Mensch seit ewigen Zeiten von unbesiegbaren Raubtieren gejagt wurde, hat er die Waffen erfunden und ist selbst zum Raubtier geworden. Die anderen Tiere haben dem Menschen diesen Wechsel nicht verziehen. Loro hanno continuato a essere fedelmente ciò che erano. Uccidevano e si facevano uccidere secondo le antiche regole. Soltanto l'uomo osava espandere il repertorio dei suoi gesti. Gracchus era l'ultima testimonianza di quel passaggio, l'ultima apparizione del cacciatore allo stato puro. Calasso wird nicht unbestritten Recht behalten, einige werden dem Jäger zustimmen und auf Unschuld plädieren, andere werden andere Schuldgründe vorbringen. Der Dichter etwa sieht den Sinn der unablässigen Fahrten des Gracchus in der Abbuße einer Sehnsucht nach Liebe, das ist naturgemäß ein weitaus mystischerer Zugang als die realistische und sachlich unmittelbar einleuchtende Schuldzuweisung Calassos. Kafka selbst äußert sich nicht zur Schuld oder Unschuld des Jägers. Dabei ist er ein geradezu abgründiger Rechtsexperte, und nicht umsonst läßt G. Agamben bei seinem Versuch in Homo Sacer zum Quellgebiet des Rechts vorzudringen, neben C. Schmitt und W. Benjamin auch F. Kafka zu als ratgebenden Vertreter eines vertieften Rechtsverständnis zu.

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