Donnerstag, 9. April 2020

Camelot in den Alpen

Leere Zeit

Im November, nach dem er die ausgehenden Sommermonate mit seinen verschiedenen Arbeiten in Verona, die Oktoberwochen aber, weil er den Winter nicht mehr erwarten konnte, in einem weit oberhalb von Bruneck, am Ende der Vegetation gelegenen Hotel verbracht hatte, faßte er eines Nachmittags, als der Großvenediger auf eine besonders geheimnisvolle Weise aus einer grauen Schneewolke auftauchte, den Entschluß, nach England zurückzukehren.

Verschiedene Hinweise erlauben den Schluß, daß Adroddwr, der Erzähler, aus England kommend nach Wien gereist ist. Die weiteren Reiseabschnitte von Wien aus, sowohl die der ersten wie auch die der zweiten Reise, werden detailliert geschildert, Venedig, Padua, Verona, Desenzano, Limone, Mailand, wieder Verona. Zum Reiseabschnitt von Verona nach Bruneck erfahren wir weiter nichts, auch nicht zum Aufstieg von Bruneck aus hin zum am Ende der Vegetation gelegenen Hotel. Anders als die Hotels in Verona, Limone, Mailand bleibt das Hotel oberhalb von Bruneck namenlos, eine Empfangsdame oder Wirtin treffen wir nicht. Man fragt sich, ob Nachtruhe und Frühstück auch hier ans Wunderbare grenzten wie in der Goldenen Traube oder ob sie Unterkunft eher nur akzeptabel war, ob sich den Tag über jemand so aufmerksam um den Erzähler kümmerte wie Luciana Michelotti in Limone. Wie aber verbringt der Erzähler überhaupt seine Tage und Wochen in dem Hotel oberhalb von Bruneck?

Weil er den Winter nicht mehr erwarten konnte, das klingt vage bis obskur, allerdings wird an anderer Stelle erzählt von dem Wunsch, alles möge zuschneien, vorweg die Menschen, und allenfalls im Frühjahr mit dem Tauwetter wieder auftauchen. In den Wochen von Oktober bis November ließ sich dieser Traum sicher nicht erfüllen. Es gibt keine Hinweise darauf, wie Adroddwr die Zeit genutzt hat. Wintersportliche Aktivitäten traut man ihm nicht recht zu, allenfalls lange Spaziergänge im Schnee, wenn denn Schnee lag. Für den Leser ist der Erzähler in diesen Wochen da und doch nicht da, es ist die einzige abwesende Anwesenheit dieser Art im ganzen Prosawerk. Was ist mit den Feriengästen, wenn es denn Feriengäste gibt, im Spätherbst kann er nicht darauf hoffen, daß alle auf der Terrasse sitzen und er allein, wie in Limone, allein in der Gaststube; bei starker Sonneneinstrahlung und windgeschützter Terrasse wäre es immerhin denkbar, Lemurengesichter würden sich bald einstellen. Gibt es überhaupt Feriengäste, gibt es überhaupt Personal? Verbringt der Erzähler den Tag wie in Limone mit Aufzeichnungen und Schreiben? – von all dem erfährt man nichts.

Als der Großvenediger auf eine besonders geheimnisvolle Weise aus einer grauen Schneewolke auftauchte: Wenn die Entscheidung für die Reise nach Bruneck in das hochgelegene Hotel nur vage begründet war, so könnte der Anlaß für die Abreise ebensogut Anlaß sein, dauerhaft zu verweilen, aber vielleicht begründet gerade das die Abreise, wer jetzt nicht aufbricht, bleibt auf immer hier. Wie bei der Anreise werden auch alle Einzelheiten der Abreise verschwiegen, die detaillierte Erzählung setzt erst wieder bei Erreichen des Bahnhofs Innsbruck ein. Das namenlose Hotel oberhalb von Bruneck ist in jeder Hinsicht isoliert, ohne Zufahrts- und Abfahrtswege, ohne verläßliche Merkmale der Realität, ein mythischer Bezirk, das Hotel Camelot hoch oben in den Alpen.
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Man kann Bruneck auch anders lesen, der enge Erzählstrang, im Bernhard-Ton, alles in einem Satz, nimmt sofort Fahrt auf, stürzt zu Tal, nimmt in Innsbruck ein beruhigtes Erzähltempo an, verlangsamt sich noch einmal beim Abstieg von Oberjoch und breitet sich aus in der Ebene der Erinnerung an die Kindheit in W., ein stilistisches Unterfangen also.

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