Samstag, 4. April 2020

Dem Leben nahestehend

La nuda vita


Mehrfach betont Sebald, der Daseinsanspruch des Menschen sei nicht größer ist als der Tiere. Ohne dem zu widersprechen, unterscheidet Heidegger zwischen dem weltarmen Tier und dem weltbildenden Menschen. Das ist trivial und für Heidegger auch nicht das Resultat, sondern der Ausgangspunkt der Überlegungen. Dabei unterscheidet er innerhalb der Tierwelt nicht eindeutig zwischen der Zecke auf der einen und dem Bonobo auf der anderen Seite, man kann sich aber fragen, ob der Weltbildungsgewinn des Bonobo gegenüber der Zecke größer oder kleiner ist als der des Menschen gegenüber dem Bonobo. Vier Dinge zumindest unterscheiden allerdings den Menschen von jeglichem Tier, die Sprache mit all ihren unübersehbaren Folgen, die Werkzeugherstellung, die Schrift und die das heutige Leben bestimmende explosiv ausufernde Produktion. Mit seinem sprachgeleiteten Denken und mit seinen Werkzeugen hat der Mensch schützende Hüllen vielfacher Art um sich gelegt.

Die Hüllen sind anfällig. In früheren Zeiten wurden Katastrophen als Strafe, gute Zeiten als Gnade Gottes gedeutet und so der menschlichen Verantwortung teilweise, wenn nicht vollends entzogen. Inzwischen hat der westliche Mensch, wie er meint, die Angelegenheiten mit Demokratie und Menschenrecht selbst in die Hand genommen. Gómez Dávila blickt als unverdrossener Katholik nach oben und fragt, was denn nun, unter diesen Umständen, mit dem Recht Gottes sei. Von unten meldet sich die Natur, die einerseits das Treiben nicht mehr mitmacht (Klima- und Umweltkrise) und andererseits ihre absolute und tödliche Geringschätzung sogenannter Menschenrechte dokumentiert (Coronakrise). Das Virus ist weder Gott noch Mensch noch Tier noch Pflanze noch auch nur ein Lebewesen, lediglich, so die Wissenschaft, ein dem Leben nahestehendes und dem menschlichen Leben offenbar desinteressiert feindliches Produkt der Natur. Das Virus ist für Schuldfragen nicht offen und für den Augenblick stärker als der Mensch und seine Hüllen.

Die Hüllen sind verletzt. Agamben stellt die in Italien und inzwischen weltweit getroffenen Notmaßnahmen dem Notstand gleich, und sieht hinter den derangierten Hüllen erneut das von ihm in Homo Sacer beschworene nackte, hüllenlose Menschenleben, la nuda vita. Er unterscheidet dabei nicht zwischen einem anberaumten oder provozierten Notstand aufgrund innergesellschaftliche Vorgänge und einer nicht von der Gesellschaft erzeugten Notlage. Angesichts der verbreiteten Verhimmelung des Menschen schließen sich nicht wenige dem Philosophen an, angemessener wäre in dieser Situation, Sebald und andere vor Augen, eine deutliche Enthimmelung des Menschen.

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