Freitag, 4. Februar 2022

Einiges Aufschreiben

Wiederholung

Es heißt, er sei 1980 nach Wien gefahren in der Hoffnung, durch eine Ortsveränderung über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen, der üblichen Benennung nach also ein Erholungsurlaub, allerdings ein scheiternder. 1987  tritt er die Fahrt nach Wien und dann weiter nach Venedig und Verona erneut an, diesmal mit der Begründung, die damalige gefahrvolle Zeit genauer zu überprüfen und vielleicht einiges davon aufschreiben zu können. Dazu paßt, daß er bereits die Fahrt von Wien nach Venedig im Gang des überfüllten Zugs auf seinem Reisegepäck sitzend über seinen Aufzeichnungen verbrachte. Worum es sich bei diesen Aufzeichnungen handelt, erfährt man nicht. Schwer ist zu glauben, sein Denken und Trachten hätte sich während der sieben Jahre fortwährend auf die zurückliegende, als gefahrvoll eingestuften Urlaubsreise gerichtet. Man weiß also nicht, mit welchem Thema die Aufzeichnungen beschäftigt waren. 

Die zweite Reise ist als Forschungsreise einzustufen, was immer der Gegenstand der Forschung sein mag. Venedig erweist sich allerdings als ungeeignet für intellektuelle Arbeit, der Boden ist be- und verdeckt von rastenden Rucksacktouristen, von den Kähnen springen Ratten ins Wasser, der Dichter fährt unverzüglich weiter nach Padua. Dort setzt er mit einem Gemälde Giottos die bereits während der ersten Reise aufgenommene Kunstbetrachtung fort, die sicher nicht dem gefahrvollen Teil der damaligen Zeit zuzuschlagen war. Die Frage der Aufzeichnungen kann erst nach der Ankunft in Limone weiter verfolgt werden. Nahe der offenen Terassentür des Hotels hat er seine Papiere und Aufzeichnungen ausgebreitet, die Wirtin, die ihm, wie erbeten, in regelmäßigen Abständen einen Espresso bringt, schaut interessiert auf sein Werk. Auf ihre Frage hin erfährt sie, er arbeite an einem Kriminalroman, in dem auch sie zu den handelnden Personen  zähle, ein sicheres Zeichen, daß er sich längst entschlossen hat, auch seine zweite Reise zu dokumentieren. An welcher Episode er im Augenblick arbeitet, erfährt man nicht. Erst in Verona nähert er sich dem eigentlichen Vorhaben, der Erforschung der zurückliegenden gefahrvollen Zeit. Die Eingangstür zum Restaurant des Carlo Cadavero ist mit einer Spanplatte vernagelt, und auch die Läden in den oberen Stockwerken des Hauses sind sämtlich verschlossen. Der Photograph im  Laden nebenan schüttelt auf Befragen hin immer nur den Kopf, als sei er des Sprechens nicht mächtig. Als sich die Tür wieder schließt, hört man immerhin eine Reihe wüster Verwünschungen. Die Aufklärungsmission ist gescheitert. Günstiger verläuft die Aufklärung der GRUPPE LUDWIG und ihrer Taten. Die zahlreichen Morde, so Salvatore Altamura, wurden aus nicht nachvollziehbaren Gründen von zwei jungen Leuten aus gutem Haus verübt, ungeklärt bleibt, ob es die gleichen Männer waren, deren Augen sich immer wieder auf den Erzähler gerichtet hatten. In der Biblioteca Civica blättert der Erzähler ausführlich in den Veroneser Zeitungen des Jahres 1913, die Erinnerung an die gefahrvolle Zeit im Jahre 1980 kann dafür nicht der Anlaß sein, vielmehr geht es offenbar um den Entwurf der Erzählung Badereise nach Riva. Es war der 6. September 1913, an dem Kafka sich auf den Weg zunächst nach Wien und dann weiter nach Riva gemacht hatte. Die ausgehenden Sommermonate verbringt der Erzähler unweit Verona in einem Hotel oberhalb von Bruneck, man hört und sieht nichts von ihm, offenbar ist er weitestgehend mit seinen Aufzeichnungen beschäftigt, welche es im einzelnen sind, wird nicht offenbart. Angelangt in der Ortschaft W., setzt er im Gasthof Engelwirt die Aufzeichnungen fort, ob es sich dabei bereits um die Schilderung seiner Kindheit in W. handelt, ist unbekannt, vom Autor heißt es, er habe Ritorno in patria schließlich auf einer griechischen Insel niedergeschrieben.

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