Samstag, 5. Februar 2022

Einsam, zweisam

Banal oder auch nicht

Alleinreisende sind in der Regel dankbar, wenn sie sie nach manchmal tagelang nicht unterbrochenem Schweigen eine Ansprache finden. Austerlitz ist denn auch über den Erzähler geradezu hergefallen mit seinen Ausführungen zum Bahnhofs- und Festungsbau. Wenn er in London war, hat der Erzähler in der Folge fast jedesmal Austerlitz an seinem Arbeitsplatz in Bloomsbury unweit des British Museum besucht, ist es dabei zu einer gleichmäßigeren Verteilung der Gesprächsanteile gekommen? Der Erzähler sieht sich selber weiterhin als Schüler und Austerlitz als Dozenten. Aber auch bei anderen Gesprächspartnern meldet sich der Erzähler, wenn wir seinen an uns gerichteten Worten vertrauen, kaum zu Worte. Jeder hat sein Thema, Malachio die Frage der Auferstehung von den Toten, Altamura die GRUPPE LUDWIG, Garrard den Jerusalemer Tempel, de Jong den Zuckeranbau und so weiter und so fort, sie berichten, der Erzähler hört zu. Bei unserer ersten Begegnung mit dem Erzähler, der Reise nach Wien und Oberitalien im Jahre 1980, zeichnet er uns ein Bild der Einsamkeit, er hat keinen Menschen, mit dem er reden könnte und ist auf den Meinungsaustausch mit den Dolen und einer weißköpfigen Amsel angewiesen. Zu einem längeren Beisammensein mit einem anderem Menschen kommt es nicht. Hätten Malachio und der Erzähler während der Bootsfahrt in Venedig für den nächsten Tag einen gemeinsamen längeren Ausflug zu Wasser oder zu Lande geplant, wäre die Geschichte womöglich anders verlaufen, der Erzähler hätte sich von seiner depressiven Stimmung befreien können. 

Anders ist die Lage in Osteuropa. Der gemeinsame Tagesausflug von Witek, mit vollem Namen Wincenty Różański, und dem Erzähler Edmund Szerucki, Edward Stachura sehr ähnlich, nimmt den rund sechzigseitigen Mittelteil des insgesamt nicht ganz hundertachtzig Seiten starken Romans Cała Jaskrawość in Anspruch. In der Erzählung Jasny pobyt nadrzeczny (Heller Aufenthalt am Flußufer) hatte Stachura ein Bild extremer Einsamkeit gezeichnet.  Er phantasiert sich ein Double irgendwo im All, in einer fernen Galaxie, auf einem der Erde ähnlichen Planeten. Gibt es dort einen ähnlichen Ort am Fluß, eine ähnliche Hütte, eine ähnliche einfallende Nacht, ein ähnliches Feuer, ein junger Mann wie er beim Feuer, der in diesem Augenblick an ihn denkt, wie er an ihn, in diesem Augenblick? Witek und Edmund sind zu zweit, also nicht einsam, beide sind Autoren, Dichter, davon ist aber nicht die Rede und wenig zu spüren. Stachura zielt in seiner Prosa immer auf das banalste Geschehen. Dabei wird aber ausdrücklich hervorgehoben, daß jeder banale Augenblick, wenn man ihn nur intensiv erlebt, sich in einen feierlichen Augenblick verwandeln kann, wie ja andererseits anberaumte Feierlichkeiten fast regelmäßig der Banalität verfallen. Viele Augenblicke wären für Höheres berufen, fallende Herbstblätter etwa, aber nur wenige werden aufgerufen, die unverzichtbare Banalität des Banalen bleibt gesichert. Dazu helfen etwa dumme Scherze, die gern auch hartnäckig wiederholt werden: ad rem, wie man in Litauen sagt, oder: gut, aber nicht hoffnungslos i tak dalej. Edmund und Witek sind als geringverdienende Gelegenheitsarbeiter in einem Kurort mit der Reinigung Teichs beschäftigt, hätten wir es mit einem außenstehenden, unbeteiligten Erzähler zu tun, wären die beiden aus dessen Sicht sozusagen gleichberechtigt. Gleichberechtigt bleiben sie auch, solange die Außenwelt betrachtet wird. Keiner der beiden raucht eine Zigarette, ohne daß der andere ihm folgt, keiner trinkt allein einen Wodka. Beim Wodka sind sie allerdings zu dritt, weil der Wodka, wie wir erfahren, seinerseits ein Mensch ist, mit dem man reden kann. Edmund ist aber nicht nur Arbeiter, Raucher und Trinker, er ist auch der Icherzähler. Als solcher bleibt er nicht wie Sebalds Erzähler vorwiegend Betrachter der Außenwelt, sondern vertieft sich immer wieder in sein Inneres, schwankend zwischen Depression (smutek) und Erleuchtung: cała jaskrawość, ein Verglühen der Dunkelheit für den Augenblick. Generell gilt für die banale Welt, und das ist die Aussage, daß sie, wenn man nur die Augen öffnet, ein metaphysischer Platz ist. Immer, wenn es für einen Augenblick scheint, wir stünden auf festen Füßen, gleiten wir ab. Man faßt aber auch wieder Fuß. Die Erzählung ist durchsetzt von banalen Erlebnissen ohne Zusammenhang, um einige zu nennen: der feuergefährdete Bus; der doppelte Blumenverkauf; unter einem Baum liegend die Aktentasche mit amtlichen Briefen; die erfolglose und ohne bekannten Anlaß durchgeführte Suche nach einem gewissen Grzybowski; die herumsitzenden Kurgäste ohne Leselust, keine Zeitungen, geschweige denn Bücher; die Kassiererin mit dem ungewöhnlichen Gedächtnis; die Talfahrt der Mädchen auf einer Schubkarre i tak dalej: Einzelheiten, eine jede separat und für sich, keine romanhafte Erzählung. Eine romanhafte Dimension nimmt allein das Warten auf Wind und Sturm an. Unterstützt vom sehnlich erwarteten Sturm bringen Witek und Edmund die alte Scheune zu Fall, die Babcia Potęgowa im kommenden Frühjahr ohnehin entfernen lassen wollte. Ohne Ahnung von der freundlichen Hilfe und voller Unschuld kann Babcia Potęgowa jetzt bei der Versicherung einen Sturmschaden geltend machen und auf eine Entschädigung von ca. 3000 Złotych hoffen. Witek und Edmund erhalten für ihre Arbeit im Teich je 980, exakt gesagt je 981 Złotych. Edmund hatte zwischenzeitig vergessen, daß Geld im Spiel war, Witek mußte ihm auf die Sprünge helfen.

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