Dienstag, 1. Februar 2022

Sehprobleme

West und Ost

Der Dichter erzählt in beschwingtem Ton von der gerade überwundenen Augenerkrankung. Als er noch, wie er glaubte, mit seiner Erblindung rechnen mußte, wäre der Tonfall ein anderer gewesen. Sozusagen über Nacht war die Sehkraft des rechten Auges fast gänzlich geschwunden, die vertrauten Figuren und Landschaften hatten sich aufgelöst, unterschiedslos, in eine bedrohliche schwarze Schraffur. Einerseits ängstige er sich um die Fortführung seiner ganz und gar auf die optische Wahrnehmung angewiesene Arbeit des Lesens und Schreibens, andererseits war er erfüllt von einer Vision der Erlösung, in der sich, befreit vom ewigen Schreiben- und Lesenmüssen, in einem Korbsessel im Garten sitzen sah, umgeben von einer konturlosen, nur an ihren schwachen Farben noch erkennbaren Welt. Letzten Endes war er aber doch mehr als zufrieden mit der Diagnose des tschechischen Ophthalmologen, der ihm die Heilung als sicher in Aussicht stellte. Ob der tschechische Ophthalmologe auch den spezifischen Problemen optischer Wahrnehmung bei osteuropäischen Dichtern gewachsen war, bleibt im Dunklen. Fast auf jeder Brücke ist der polnische Dichter stehengeblieben. Hat sich auf das Geländer gestützt und für eine Weile auf das Wasser geschaut, ohne es aber zu sehen, das heißt, anfangs hat er das Wasser gesehen, sobald er sich nur über das Geländer beugte, aber dann sah er es nicht mehr, denn er hat zwei Blicke, und heute war es einer von ihnen, auf jeder Brücke fast: eine Zeitlang schaute er beharrlich auf das Wasser, das er anfangs sah, aber dann wurde es undeutlich, durchsichtig, und verschwand in der Luft oder im Nebel. So gut wie auf jeder Brücke blieb er stehen, zündete eine Zigarette an, beugte sich über das Geländer und schaute auf das Wasser, das er zunächst sah und dann nicht mehr, denn er hat ein Art des Blicks, die ein Nichtsehen ist, eine Vergeßlichkeit der Augen, ein Absturz in einen Trichter, der zur Rückseite des Auges führt. - Ist dieses Phänomen schon erforscht, schon therapierbar? Ist es überhaupt eine therapiebedürftge Erscheinung und wenn ja, eine Beeinträchtigung oder, besser gesagt, eine Unterbrechung  des Sehvermögens, oder ist es vielmehr eine besondere, keiner Heilung bedürfige Gnade, die es erlaubt, den Blick im rechten Augenblick von der Außenwelt nach Innen zu richten?

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