Weiblichkeit
Den größten Unterschied zwischen der ersten Italienreise und der zweiten macht zweifellos der Umstand aus, daß bei der ersten Reise keine Frauen beteiligt waren, wenn man einmal
absieht von der Pförtnerin im Giardino Giusti, das war zu wenig, das konnte nicht gutgehen. Jetzt
aber, sieben Jahre später, war es ein friedlicher Tag in Limone. Er saß an
einem Tisch nahe der offenen Terrassentür mit seine Papieren und
Aufzeichnungen. Das Schreiben ging ihm mit einer ihn selbst erstaunenden
Leichtigkeit von der Hand. Luciana, die hinter der Theke wirtschaftete, brachte
ihm, wie er es erbeten hatte, in regelmäßigen Abständen einen Express und ein
Glas Wasser. Schreiben und zwischendurch immer wieder ein Coffi bach, wem der Sinn nach
beidem steht, sieht darin bereits das Paradies auf Erden, zumindest für einige
Zeit. Es kommt aber noch schöner. Meistens blieb Luciana nach der Verabreichung
noch einen Augenblick stehen und knüpfte eine kleine Unterhaltung an, dann ging
sie geschwind hinter die Theke zurück. Später brachte sie ihm auf seine Wunsch
hin verschiedene Zeitungen und einen Fernet. Wieder blieb sie ein wenig stehen
bei ihm, und es ist ihm gewesen, als spürte er ihre Hand auf seiner Schulter. Was
konnte schöner sein, aber es kam noch schöner. Vielleicht, weil er dachte, es
könne allzu schön werden, entschloß er sich, am nächsten Tag nach Verona hinüberzufahren.
Die Götter aber hatten anderes im Sinn, sie lassen den Reisepaß verschwinden.
Es ist Luciana, die ihn zwecks Beschaffung eines Ersatzdokuments zur
Polizeistation fährt. Mit der Bescheinigung in der Hand ist ihm, als seien
Luciana und er gerade vom Brigadiere getraut worden und könnten nun miteinander
hinfahren, wo sie wollten. Tatsächlich geleitet Luciana ihn nur bis zur
nächsten Bußhaltestelle. Ersatz aber, wenn man so herzlos formulieren darf, ist
schon bald zur Stelle. Ihm gegenüber im Abteil saßen eine Franziskanerin von
vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer
aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern. Das Mädchen
war in Brescia zugestiegen, die Franziskanerschwester hatte in Desenzano
bereits im Zug gesessen. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht
minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide,
dachte ich mir, abwesend und anwesend zugleich, und ich bewunderte den tiefen
Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die
Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die
Franziskanerschwester. Dieses Erleben, das, wenn auch gänzlich stille Zusammensein
mit schönen Frauen hat ihn offenbar gestärkt. Als ihn beim Verlassen des
Mailänder Bahnhofs zwei junge Männer überfallen, schlägt er sie schwungvoll mit
seiner Reisetasche in die Flucht, ein wahrer Lawnslot. Dabei war er es
doch gewesen, der vor Jahren in der Pizzeria Verona die Flucht ergriffen hatte, ohne daß
klare Hinweise auf eine Gefährdung vorgelegen hätten. Von Mailand aus gelangte er nun über mehrere Etappen hinweg schließlich in
die Ortschaft W. Die Engelwirtin betrachtete ihn mit unverhohlener
Mißbilligung. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken ihre Strickjacke
zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen
Hand. Der Empfang in W. ist, das mag überraschen, nicht so sehr verschieden von
dem in Limone. Mit auffälliger Langsamkeit hatte Luciana das
Registrationsgeschäft vorgenommen, in seinem Paß geblättert, mehrmals mein
Gesicht mit der Photographie verglichen und ihm schließlich den
Zimmerschlüssel ausgehändigt. Anders als in Limone tritt aber in W. die Wende zum
Guten nicht ein, jedenfalls hört man davon nichts. Unter anderem mag es am
Fehlen des hochwertigen, die Menschen verbindenden italienischen Kaffees
gelegen haben. Schon in Innsbruck hatte die Bedienerin in den Tiroler Stuben ihm
auf eine gar nicht einmal unfreundliche Bemerkung über den Tiroler
Zichorienkaffee hin auf die bösartigste Weise das Maul angehängt. Das Schicksal, wie man sagt,
gibt ihm aber noch eine weitere Chance. Auf der Heimfahrt betritt
eine junge Frau mit einem braunen Samtbarett und lockigem Haar das Abteil, die
Elizabeth, der sogenannten Winterkönigin, täuschend ähnlich sieht. Sie vertieft
sich sogleich, anscheinend ohne ihn zu beachten, in ein Buch mit dem Titel Das böhmische Meer, verfaßt von
einer Autorin namens Mila Stern. Ein wenig später, als er auf den Gang hinausgetreten
ist, steht Elizabeth plötzlich neben ihm und sagt ein Gedicht auf: Rasen weiß verweht vom
Schnee, Schleier schwärzer als die Kräh‘, Handschuh weich wie Rosenblüten,
Masken das Gesicht zu hüten. Er aber brachte nichts heraus und ist nur dumm und
stumm stehengeblieben. Dabei wäre es ein leichtes gewesen, die Schöne auf einen
Espresso oder Coffi in den Speisewagen einzuladen. Das Buch über das böhmische
Meer hat er später trotz intensiver Recherchen nirgends auffinden können. Abschließend bleibt noch die sehr schwarze Negerfrau in der dunklen Vorhalle der
U-Bahnstation zu
erwähnen, von der Näheres nicht bekannt ist.
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