Mittwoch, 23. Februar 2022

Tot und Lebendig

Varianten


Überall ziehen sie auf Korsika herum, die Toten, in kleinen Banden und Gruppen und manchmal in regelrechten Regimentern. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie normale Leute, aber sowie man genauer hinschaut, verwischen sich ihre Gesichter oder flackern, gerade wie die Gesichter der Schauspieler in einem alten Film. Kaum anders ist es im keltischen Wales. Dort gehen Toten fast immer alleine, manchmal ziehen sie aber auch in kleinen Schwadronen herum: in bunten Uniformröcken oder in graue Umhänge gehüllt hat man sie schon gesehen, wie sie zwischen den Feldmauern, die sie nur knapp überragten, mit leisem Rühren der Trommel hinaufmarschierten in die Hügel über dem Ort. So alltäglich wie die Begegnung mit den Toten zu sein scheint, kommt es anscheinend doch kaum zu unmittelbarem Verkehr mit den Lebenden. Wenn man Máirtín Ó Cadhain vertrauen kann, ging es, was den Kontakt der Lebenden und der Toten anbelangt, in Irland oder doch zumindest in Connemara ähnlich zu, bei nicht ganz unbedeutenden Abweichungen. Die Toten bleiben in jedem Fall unter der Erde, die Lebenden oberhalb. Zwischen den beiden Parteien besteht kein Kontakt. Umso mehr wird von den Neuzugängen, den Neutoten erwartet, daß sie, angekommen unter der Erde, von den aktuellen Entwicklungen oberhalb der Erde berichten. Die Toten sehen nicht den geringsten Anlaß, ihre Todesweise anders zu gestalten als ihre gewohnte Lebensweise, soweit das möglich ist. Ihr Denken und ihre Interessen bleiben gleich. Die beiden Frauen, die sich zu Lebzeiten gestritten haben, ob die eine das geliehene Pfund zurückerstattet hat oder nicht, setzen den Streit unterirdisch fort, ungeachtet des Umstandes, daß ohnehin jeder Zahlungsverkehr unter der Erde zum Erliegen gekommen ist. Auch die Eitelkeiten sind keineswegs überwunden, eine der Neutoten leidet erheblich darunter, daß die Nachkommen ihr nicht den erhofften Prunksarg, sondern nur eine schlichte Holzkiste gegönnt haben. Erheblich anders ist  das Verhältnis von Leben und Tod, so wie Juan Rulfo es in seinem Roman Pedro Paramo schildert, außerhalb Europas, in Mexiko oder doch zumindest in der Ortschaft Comala. Ähnlich wie in Wales oder auf Korsika sind die Toten sichtbar und vorhanden und, darüber hinausgehend, von den Lebenden nicht ohne weiteres unterscheidbar. Jemand weist darauf hin, diese Frau, von der gerade die Rede ist, sei entgegen dem äußeren Eindruck eine Tote und verschweigt, daß auch er tot ist. Die Menschen, ob tot oder lebendig, bewegen sich in einem gleichmachenden Existenznebel. Man fragt sich schließlich, ob es überhaupt noch wahre Lebende im verbreiteten Sinne gibt. Für das rätselhafte Treiben, das Verwischen der Grenze, war offenbar der Protagonist des Buches, Pedro Paramo eben, verantwortlich, wer heute nach Comala kommt, findet geordnete Verhältnisse vor, die Toten sind tot und die Lebenden leben.

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