Mittwoch, 16. Februar 2022

Verwandlung

Neuorientierung

Der Höhepunkt des Aufschwungs des in allen Ländern als ein an Unternehmergeist und Fortschrittlichkeit nicht zu überbietenden Industriejerusalems ist der Bau des Schiffahrtkanals in den Jahren 1887 bis 1894 gewesen. Durch die Vollendung des gigantischen Kanalprojekts war Manchester zum größten Binnenhafen der Welt aufgestiegen. Der Schiffahrtsverkehr hatte um 1939 seinen Höhepunkt erreicht und war dann bereits gegen Ende der fünfziger Jahre völlig zum Erliegen gekommen. Was man später gebaut hatte, um den allgemeinen Zerfallsprozeß aufzuhalten, war selbst schon vom Zerfall bedroht, ja, sogar die sogenannten development zones am Rand der Innenstadt und entlang des Schiffahrtskanals schienen schon wieder halb aufgegeben. – Nicht nur an diesen, aber auch an diesen Ausführungen zeigt sich, daß der Dichter, was Moderne und Industrialisierung anbelangt, kaum positive Erwartungen hatte. Bruno Latour hat schon sehr früh die Folgen wie Klimawandel, Überbevölkerung, Hyperkonsum etc. wahrgenommen und besprochen, in Où suis-je nutzt er die dank der Pandemie sich einstellende relative Ruhe für vertiefte Überlegungen. Wohin überhaupt kann er noch schauen, wenn die Corona-Regelungen ihm wieder einmal erlauben, für kurze Zeit vor die Tür zu treten? Auf die Sonne? Die Wärme, die sie spendet, läßt sich nicht genießen, ohne an die Klimaerwärmung zu denken. Auf die Bäume, die sich im Wind bewegen? Verdrießt durch den Gedanken, daß sie vertrocknen oder unter der Säge enden. Auf den Regen, der aus den Wolken fällt? Du weißt, daß bald überall Wasser fehlen wird. Die Landschaft betrachten? Unkraut- und Insektenvernichtungsmittel haben die Landschaften längst in Wüsteneien verwandelt. Heil und unberührt bleibt allein nur der Mond, er ist das einzige lohnende Ziel andächtiger Betrachtung. In der Einsamkeit des Lockdowns kommt Latour sich zunehmend vor, als sei er der verwandelte Gregor Samsa, und plötzlich wird im klar, die Verwandlung wäre der richtige Schritt, sind doch die Insekten in ihrem Verhalten weitaus umweltgerechter als der Mensch. Mehr als zwanzig Jahre zuvor war der Dichter zu dieser Erkenntnis noch nicht endgültig vorgedrungen. Noch nicht erholt von seiner Krankheit, steht er gegen die Glasscheibe des Spitals gelehnt und muß unwillkürlich an den armen Gregor denken, der mit zitternden Beinchen an die Sessellehne sich klammernd aus seinem Kabinett hinausblickt in undeutlicher Erinnerung an das Befreiende, das früher einmal für ihn darin gelegen war, aus dem Fenster zu schauen. Und genau wie Gregor mit seine trüb gewordenen Augen die stelle Charlottenstraße nicht mehr erkannte, so schien auch ihm, dem Dichter, die vertraute Stadt vollkommen fremd. Weiter Folgerungen im Sinne Latours bleiben aus, obwohl sie gleichsam schon an der Türschwelle stehen.

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