Donnerstag, 13. Januar 2011

Bewegung im Schattenreich

Sebald und Kafka im Gespräch

Die Marbacher Ausstellung Wandernde Schatten, Sebalds Unterwelt erlaubte es, durch die gläsern gemachte Oberfläche der Sebaldschen Prosa hindurch in ihren Untergrund zu schauen. Die überragende Rolle, die Kafka in dieser Unterwelt einnimmt, war allerdings nur unvollkommen zu erkennen. Sebalds Prosaerstling Schwindel.Gefühle bewegt sich ganz entlang von Linien, die sich aus zwei Prosafragmenten Kafkas betreffend den Jäger Gracchus und den Jäger Hans Schlag ableiten. Stendhal trifft auf den Jäger Gracchus bereits in der ersten Erzählung Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe, bevor Kafka ihn noch hatte erfinden können. Unter anderem im Bahnhofspissoir von Desenzano hat Gracchus seine Spur hinterlassen: Il cacciatore è stato qui. Auf einem Dachboden, den beide, Kafka und Sebald kennen, verwandelt sich Gracchus in den Jägerkollegen Hans Schlag, den der sebaldnahe Erzähler Selysses als Kind in seinem Heimatort W. leibhaftig kennengelernt hat, und der nach seinem Tode vermittels einer auf den Arm eintätowierten Barke seine Identität mit dem Gracchus offenbart, der unter diesem Namen nicht sterben konnte.

Bei Bereitschaft zu einiger Radikalität läßt sich im übrigen auch Austerlitz als die bloße Einkleidung einer Kafkastelle zu verstehen, ist doch die zentrale Stelle des Buches, die Abreise des Knaben Jacques Austerlitz vom Prager Bahnhof mit dem schon nach kurzer Fahrstrecke versinkenden Zug von Kafka gestaltet.

Ein größerer Unterschied im Prosaklang als der zwischen Sebald - weite Satzbögen, zahlreiche nichttragende, allein satzmelodiöse Teile, die innersyntaktische Stille und Muße schenken - und Kafka - karg, abrupte Fügungen - ist kaum vorstellbar, umsomehr muß es überraschen, wie schwerelos die Kafkafragmente sich in den Sebaldtext einpassen. Ein Leser, der die Kafkastellen nicht als solche identifiziert, mag allerdings eine besondere Intensität spüren, so als schauten die Augen eines Nachtvogels aus dem Dunkel hervor und fixierten ihn.
Kafka ist der Dichter des Fragments. Keiner seiner Romane ist angeschlossen, und auch die wenigsten Erzählungen sind zur Vollendung gebracht, eine Vollendung, die dann allerdings, im Landarzt, in der Strafkolonie und vielen anderen, überwältigend ist. Daneben aber finden sich in den Tagebüchern, Heften und Blättern zahllose Prosafragmente äußerster Suggestivität, mit der Qualität von Edelsteinen, so daß es keineswegs verwundert, wenn Sebald hier zugegriffen hat: auf die Barke des Jägers Gracchus, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen; und auf den Dachboden des Jägers Hans Schlag, eine große runde Mütze aus Krimmerpelz saß tief auf seinem Kopf, ein starker Schurrbart breitete sich steif aus, gekleidet war er in einen weiten braunen Mantel, den ein mächtiges Riemenzeug, es erinnerte an das Geschirr eines Pferdes, zusammenhielt, auf dem Schoß lag ein gebogener kurzer Säbel im mattleuchtender Scheide, die Füße staken in gespornten Schaftstiefeln, ein Fuß war auf eine umgestürzte Weinflasche gestellt, der andere auf dem Boden war etwas aufgerichtet und mit Ferse und Sporn ins Holz gerammt.

Das wundersame Zusammenleben der Prosawelten Kafkas und Sebalds in den Schwindel.Gefühlen mag den Wunsch und die Idee reifen, lassen weitere Kafkafragmente hervorzuziehen, um sie mit Sebaldsätzen einzufassen. Diese Idee wird im folgenden umgesetzt. Ein Sakrileg, mag man fürchten, aber die Furcht ist unbegründet, die Teile bleiben intakt und können unbeschädigt in ihre ursprüngliche Umgebung zurückkehren. Der Fragmentcharakter der Kafkastellen wird nicht aufgehoben, in den gelungeneren Versuchen eher akzentuiert, und nur für einen Augenblick in eine bestimmte Verstehensrichtung geleitet, wie es ohnehin bei jeder Lektüre geschieht, und die, da das mit Hilfe Sebalds geschieht, kaum anders als meisterlich sein kann.

Als eine Lesart der Schwindel.Gefühle wird vorgeschlagen, sie insgesamt als Versuch einer Aufheiterung Kafkas zu verstehen, und tatsächlich, auf dem einzigen in den Text aufgenommenen Photo lächelt Kafka, wenn auch zur eigenen Verwunderung. Vielleicht kann ihm der Frohsinn noch ein wenig selbstverständlicher werden.

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