Dienstag, 8. Juli 2008

Leaving Prague

Wer den Autor Sebald zuvor nicht kannte, mag die Lektüre des Austerlitzbuches mit Vorbehalten und Unbehagen angegangen sein. Der Einband mit der seltsamen Knabengestalt als Edelclown ist nicht jedermanns Sache. Im Inneren dann im Durchschnitt auf jeder dritten Seite ein Photo. Vielleicht, so die denkbare Befürchtung, hat hier ein Autor selbst eingesehen, daß es ihm sprachlich nicht ganz reicht, und seinen Ausführungen mit Bildchen aufgeholfen. Aber spätestens auf der zweiten Seite unten, noch vor dem ersten Photo, dort wo im Zwielicht des Antwerpener Nachtzoos der Waschbär am Bächlein sitzt und immer denselben Apfelschnitz wäscht, als hoffe er, durch dieses, weit über jede vernünftige Gründlichkeit hinausgehende Waschen entkommen zu können aus der falschen Welt, in die er gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun geraten war, wissen wir: hier ist einer der großen Zauberer am Werk.

Was noch eine Weile sich halten kann, ist ein leichtes Unbehagen am zunächst wenig einleuchtenden Titel, der zugleich der Name des Helden im Buch ist. In Fortgang der Lektüre werden dann, abgesehen von einer apokryphen Laura Austerlitz, die vor einem italienischen Untersuchungsrichter Aussagen gemacht haben soll über die 1944 in einer Reismühle auf der Insel Saba bei Triest verübten Verbrechen, drei Bedeutungsquellen genannt, zunächst natürlich der napoleonische Schlachtenort, dann der bürgerliche Name des Tänzers Fred Astaire und schließlich eine Gestalt dieses Namens aus Kafkas Tagebüchern. Die Schlacht bei Austerlitz findet breite Berücksichtung im spaßigen Bericht über die Unterrichtsmethodik des Lehrers Andre Hilary, und zahlreiche Fäden verflechten sich von dorther in die Darstellung von Kriegsgewalt und Fortifikationswesen. Was nun Fred Astaire anbelangt, so hat er in bürgerlicher Kleidung bürgerliche Szenen getanzt, mithin Prosa, und Kenner der Tanzkunst haben ihm und seinen Sprüngen eine metaphysikalische Schwerelosigkeit attestiert. Angesichts der eigenen ästhetischen Zielsetzungen ein deutliches wenn auch angemessen verstecktes Sebaldus fuit hic also, das der Dichter, wie anzunehmen ist, mit einigem Wohlgefallen in sein Prosawerk eingezeichnet hat. Die tiefsten Bezüge aber verlaufen natürlich nicht zu Astaire, sondern zu Kafka und zwar exakt zu seinen Tagebüchern, die vom jüdischen Leben in Prag viel tiefer und direkter erfüllt sind als die Erzählprosa. Mit der bloßen Nennung Kafkas ist im Souterrain des Austerlitzromans ein intensiver und makabrer Kontrast aufgebaut zwischen dem jüdischen Prag der zwanziger Jahre und dem im Prinzip judenfreien Prag, das Sebalds Held Austerlitz aufsuchen muß.

Der fragliche Tagebucheintrag findet sich unter dem 24.12.1911. Es geht um die Beschneidung von Kafkas Neffen. Ein kleiner krummbeiniger Mann, Austerlitz, der schon 2800 Beschneidungen hinter sich hat, führt die Sache sehr geschickt aus. Kafkas Austerlitz steht also nicht nur einfach für jüdisches Leben, er steht an einem zentralen Punkt jüdischen Lebens. Wer, ohne sonst über viel theologische Bildung zu verfügen, Jack Miles‘ God, a Biography gelesen hat, dem steht der gemeinsame jüdische und christliche Gott des Alten Testaments vor allem als Vorhautsammler vor Augen.

Philologische Akribie könnte wahrscheinlich viele Einzelbezüge den Prager Passagen im Austerlitzbuch und Kafkas Schriften herausarbeiten, hier soll es nur um eine Einzelheit gehen. Unter dem 1.11.1911 findet sich der folgende Eintrag:

Überraschend fieng der Zug langsam zu fahren an, Fr. Klug bereitete ihr Taschentuch zum Winken vor, ich möchte ihr schreiben, rief sie noch, ob ich ihre Adresse wüßte, sie war schon zu weit, als daß ich ihr mit Worten hätte antworten können, ich zeigte auf Löwy von dem ich die Adresse erfahren könnte, das ist gut, nickte sie mir und ihm kurz zu und ließ das Taschentuch flattern, ich hob den Hut, zuerst ungeschickt, dann je weiter sie war, desto freier. Später erinnerte ich mich daran, daß ich den Eindruck gehabt hatte, der Zug fahre nicht eigentlich weg, sondern fahre nur die kurze Bahnhofstrecke um uns ein Schauspiel zu geben und versinke dann.

Sebald macht daraus folgendes:

Vera erinnerte sich (...) an das Flattern, gleich dem einer auffliegenden Taubenschar, der weißen Taschentücher, mit denen die zurückbleibenden Eltern ihren Kindern nachwinkten, und an den seltsamen Eindruck, den sie gehabt habe, daß der Zug, nachdem er unendlich langsam angerückt war, nicht eigentlich weggefahren, sondern bloß, in einer Art Täuschungsmanöver, ein Stück aus der überglasten Halle herausgerollt und dort, noch nicht einmal in halber Ferne, versunken sei.

Mir ist nicht erinnerlich oder bekannt, daß Kafka das Motiv des versinkenden Zuges literarisch genutzt und ausgearbeitet hätte, umso schöner die reiche Aufnahme des Motivs durch Sebald. Es ist ja nicht nur der Titelheld Austerlitz, der Prag nicht verläßt, um irgendwo anzukommen, es ist Europa, das entgegen aufklärerischen Annahmen nicht abfahren kann, und es ist die Welt, für deren jetzigen Zustand Europa ja mehr oder weniger ganz allein verantwortlich ist. Keller und Hebel unterlagen einer Täuschung, wenn sie hofften, wenn schon nicht glaubten, eine kurzes Stück noch und die Welt möchte in Ordnung kommen (Logis im Landhaus), eine Täuschung freilich, die viele Wahrheiten in den Schatten stellt. Kafkas Ängste waren berechtigt, der im Feuer erzeugte Dampf der Maschine ist nicht Element einer fortschreitenden, sondern einer immer schneller nur verbrennenden Welt.

Die Metapher der weißen Tücher als Taubenschar bringt das den Austerlitzroman vielfältig durchziehende Flugmotiv ins Spiel. Aber die Welt wird sich nicht erheben, die Enthusiasten der Luftfahrt (Gerald im Austerlitz- und der andere im Saturnbuch) sind längst abgestürzt, Giottos Angeli visitanti la scena della disgrazia mit ihren im Schmerz so sehr zusammengezogenen Brauen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden, diese drei Engel, zu denen Sebalds Prosa sich hinzugesellt (denn was ist sie anderes als ein schwebendes Lamento über eine Welt im Stand der Ungnade), bleiben, zumindest im Bereich der Flugobjekte, das weitaus Wunderbarste, was wir uns jemals haben ausdenken können (Schwindel.Gefühle).

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