Montag, 1. April 2019

Ausgeglichene Bilanz

Zweiter Durchgang 1987

Fast scheint es, als ließe sich die zweite Italienreise, sieben Jahre später, noch schlimmer an als die erste, der Nachtzug nach Venedig ist hoffnungslos überfüllt, das Bahnhofsgelände komplett belegt von lagernden Touristen, dem Teil der Menschheit, den der Erzähler am wenigsten schätzt. Als er dann noch eine Ratte die Bordkante eines mit Müll beladenen Kahns entlanglaufen sieht, entschließt er sich, unverzüglich nach Padua weiterzufahren. Aber es waren ja nicht die die äußeren Umstände, sondern die innere Unruhe, die die erste Reise scheitern ließ, jetzt ist er weitaus ausgeglichener. In Padua will er nicht länger verweilen, es geht ihm nur um Giottos Fresken in der Kapelle Enrico Scrovegni und dabei vor allem um Giottos Engel, die in stummer Klage seit siebenhundert Jahren über unserem Unglück schweben und zugleich das Wunderbarste sind, was wir uns jemals haben ausdenken können. Er will unmittelbar weiterfahren nach Verona, bleibt aber, Kafka im Kopf, sitzen im Zug bis Desenzano. Die peinliche Begebenheit im Bus nach Riva, wo man ihn für einen zu seinem Vergnügen in Italien reisenden Päderasten hält, veranlaßt ihn, bereits in Limone auszusteigen, das unerfreuliche Vorkommnis verwandelt sich in einen Glücksfall in der Gestalt von Luciana Michelotti. Der Verlust des Passes setzt eine dreiteilige Sequenz des Glücks in Gang: die Trauung mit Luciana, bei all ihrer zeitlichen Begrenztheit, die Zugfahrt mit der Franziskanerin von vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und dem junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern, von vollendeter Schönheit waren sie beide, und dann die Begegnung mit dem Artisten Giorgio Santini, der sich aufgrund verschiedener Indizien als San Giorgio in moderner Gestalt erweist. Daß er zuvor in der Nähe des Mailänder Bahnhofs von zwei Straßenräubern überfallen wird, fällt nicht negativ ins Gewicht, er schlägt sie mithilfe seiner Tasche in die Flucht und rückt so seinem Schutzpatron, dem heiligen Georg, als Kämpfer gegen das Böse näher. Dagegen ist der wiedererlangte Paß, die wiedererlangte Identität eher ein Rückschlag, Schwindelgefühle machen sich wieder geltend. Dann geht es weiter nach Verona, dem eigentlichen Reiseziel. Im Hotel Goldene Taube wird er geradezu fürstlich empfangen, Nachtruhe und Frühstück grenzen ans Wunderbare, das konnte niemand erwarten. Später dann läßt er sich in der Biblioteca Civica Zeitungsbände des Jahres 1913 geben, dem letzten Jahr des 19. Jahrhunderts, die Lunte brennt herunter. Er vertieft sich in eine Reihe krauser Begebenheiten, der Eindruck einer gezielten Recherche stellt sich nicht ein. Am Nachmittag führt in der Weg zur Piazza Bra an der inzwischen geschlossenen Pizzeria Verona vorbei. Als er sich im gegenüberliegenden Photogeschäft nach Einzelheiten erkundigt, schüttelt der Inhaber nur stumm den Kopf und bricht, als er wieder geht, in wüste Verwünschungen aus. Vielleicht war die panikartige Flucht sieben Jahre zuvor doch nicht ganz unbegründet. Vor der Bar mit der grünen Markise auf der Piazza unterrichtet Salvatore Altamura den Erzähler über die weiteren Vorkommnisse im Zusammenhang mit der Organizzazione Ludwig in den Jahren nach 1980. Die Organisation habe nur aus zwei jungen Leuten bestanden. Es ist höchst unwahrscheinlich aber nicht ausgeschlossen, daß es die Augenpaare eben dieser Jungen Leute waren, die der Erzähler immer wieder auf sich gerichtet sah.

Auf der ersten Italienreise werden Harmlosigkeiten wie, als Beispiel, die Bestellung eines Cappuccinos zu imaginären Katastrophen bis hin zum Verlust des eigenen Kopfes, auf der zweiten Reise werden reale Mißgeschicke wie, als Beispiel, der Pädophilieverdacht im Bus nach Riva zum realen Glücksfall der Einkehr bei Luciana Michelotti in Limone. Übergreifend kann man wohl von einer ausgeglichenen Reisebilanz sprechen.

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