Mittwoch, 10. April 2019

Zombie

Ökumene

Wenn Emmanuel Todd, französischer Historiker, Anthropologe, Demograph, von Zombiekatholizismus spricht, hat er bestimmte, ursprünglich vom Katholizismus geprägte Landstriche im Auge, aus denen der katholische Glaube, orientiert man sich an der Zahl der regelmäßigen Gottesdienstbesucher, so gut wie verschwunden ist, der Katholizismus aber nach wie vor die Einstellungen der Menschen maßgeblich bestimmt, etwa, für das Gemeinwesen nicht unerheblich, die Entscheidung an der Wahlurne. Der Einzelne, den Todd nicht im Auge hat, ist im Feld von Glaube und Unglaube auf eine je eigene Weise positioniert. Sebald schildert seine eigenen Orte, seine Entwicklung auf mythologische Weise. Auf Grünewalds Altarbild in der Pfarrkirche von Lindenhardt schicken sich sein Namenspatron und damit er selbst an, über die Schwelle des Rahmens und damit aus der Gemeinschaft der Heiligen heraustreten. Auf Pisanellos Bild des Giorgio mit dem Strohhut geht von dem demissionierten Heiligen bereits etwas herzbewegend Weltliches aus, und schließlich trifft der Dichter den Schutzpatron, er heißt jetzt Giorgio Santini, als lebendigen Menschen und Doppelgänger, als Hochseilartisten auch und somit als Berufskollegen der Kunstschaffenden und Literaten im deutschen Konsulat zu Mailand. Als ehemaliger Angehöriger der Riege katholischer Heiliger ist er kaum mehr zu erkennen.

Man könnte sich mit dieser Selbstbeschreibung in Bildern zufriedengeben und es belassen bei den Fakten, die Uwe Schütte vermittelt. In seiner frühen Jugend war Sebald, das mag überraschen, zunächst ein ferventer Katholik, hat sich dann aber noch in der reiferen Jugend entschieden vom katholischen Glauben abgewandt. Details, Begründungen sind für beide Positionen nicht bekannt. In der Not kehrt man zurück zu den Bildergeschichten in Gestalt des in Brescia zugestiegenen jungen Mädchens mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern, tief und still versenkt in einen Bilderroman. Das wäre ohne Bedeutung, wenn nicht im gleichen Abteil eine Franziskanerin säße, ganz der Lektüre ihres Breviers hingegeben. Mit tiefem Ernst wenden sie die Blätter um, einmal die Franziskanerschwester, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. Man könnte meinen, sie läsen in einem gemeinsamen, Brevier und Bildroman übergreifenden Werk. Die dritte Person im Abteil, der Dichter, wendet sich notgedrungen ebenfalls der Lektüre zu und zieht den Beredten Italiener hervor, ein altertümliches Sprachlehrbuch. Die Fortschritte im Erlernen des Italienischen sind gering, zu sehr fesselt ihn der von dem Büchlein vermittelte Eindruck, die Welt sei zur Gänze aus Wörtern zusammengesetzt, als wäre dadurch das Entsetzliche in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Teil ein Gegenteil, zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude, zu jedem Unglück ein Glück und zu jeder Lüge auch ein Stück Wahrheit. Damit hat er die protestantische Welt des Johann Peter Hebel betreten, der dem blind und taub sich fortwälzendem Prozeß der Geschichte Begebenheiten entgegenhält, in denen ausgestandenes Unrecht entgolten wird, auf jeden Feldzug ein Friedensschluß folgt, jedes Rätsel eine Lösung hat, und wo im Buch der Natur auch die kuriosesten Kreaturen wie die Prozessionsspinner und die fliegenden Fische ihren Platz haben. So fahren sie dahin in ungetrübter Eintracht, das schöne Weltkind, die nicht weniger schöne Nonne und der Geist des Protestantismus in seiner schönsten Form. Eine von Glaubenskriegen geprägte Vergangenheit ist nicht mehr vorstellbar. Als der Dichter aber in Mailand auf dem Bahnsteig steht, sind das Mädchen mit der vielfarbigen Jacke und die Franziskanerschwester längst verschwunden.

Keine Kommentare: