Dienstag, 2. April 2019

Griechische Sandler

Philosophenregel

Ein Dutzend Sandler waren es im Innsbrucker Bahnhof und eine Sandlerin. Sie bildeten eine bewegte Gruppe um einen Kasten Gösser-Bier, der wundersamerweise, gewissermaßen aus dem Nichts hervorgezaubert, auf einmal in ihrer Mitte stand. Verbunden untereinander durch die weit über die Landesgrenzen hinaus für ihren Extremismus bekannte Tiroler Trunksucht, verbreiteten sich diese teils kaum erst aus dem bürgerlichen Leben ausgeschiedenen, teils ganz und gar zerrütteten Tiroler Sandler, die durch die Bank einen Zug ins Philosophische, ja sogar ins Theologische hatten, über das Tagesgeschehen sowohl als über den Grund aller Dinge, wobei es regelmäßig gerade denjenigen, die besonders lauthals das Wort ergriffen, mitten im Satz die Rede verschlug oder aber sie winkten voller Verachtung ab, weil sie den Gedanken, den sie gerade noch im Kopf gehabt hatten, nicht mehr in Worte fassen konnten. – Man darf sich nicht täuschen lassen, die geschilderte Szene ist von der philosophischen Wahrheit, vom philosophischen Mainstream nicht so weit entfernt, wie es scheinen mag. Was war Diogenes von Sinope in seiner Tonne anders als ein Sandler, und mußte nicht Heraklit, wenn ihn jemand, was selten genug vorkam, in seiner heruntergekommenen Behausung besuchte und zögernd innehielt, ausdrücklich darauf hinweisen, daß auch hier Götter sind? Im Unterschied zu den Tiroler Sandlern waren die griechischen allerdings ausgeprägte Einzelgänger, philosophische Gruppenseminare fanden nicht statt, Diogenes konnte ohnehin auch mit Hilfe einer Lampe keine Menschen, geschweige denn Philosophen finden. Der aus dem Nichts enstandene Kasten Gösser-Bier rührt naturgemäß an die Grundlagen der Philosophie, die πρώτη φιλοσοφία: Wurde der Kasten aus dem Feuer geboren - Heraklit würde kompromißlos darauf bestehen - oder aus dem Wasser; vom zwischen den philosophischen Fronten vermittelnden Feuerwasser, Miniwakan, spricht man beim Bier angesichts seines geringen Alkoholgehalts nicht. Schwierigkeiten bereitet die Zuordnung der einsamen Sandlerin in der Männergesellschaft. Hypatia oder Hipparchia scheiden aus als Bezugspunkt, eher mag man an Xanthippe denken, also keine Philosophin, sondern die getreue Gefährtin eines Philosophen. Und wenn die Sandler abwinken, weil sie den angedachten Gedanken nicht in Worte fassen können, ja, das ist nichts als eine gute Philosophenregel von altersher, wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.

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