Sonntag, 7. April 2019

Rangordnung

Wittgensteins Regel

Jeder, der Austerlitz von der Pole-Position in Sebalds Prosawerk verweist und weit hinten auf dem letzten Platz in der Rangordnung* einordnet, ist zu loben. Diese Position vertritt auch Uwe Schütte in seinem neuesten Buch Annäherungen, verwahrt sich aber gleichzeitig gegen überbordende Kritik aus England und insbesondere gegen die von Adam Thirlwell. Thirlwell sieht Kitsch. Das deutsche Wort Kitsch wird gern im nichtdeutschen Sprachraum verwandt, und ab und zu kann man sich fragen, ob die Bedeutung des Wortes überhaupt verstanden wurde. Kitsch sieht Thirlwell einmal, so Schütte, im tiefen Geschichtspessimismus des Autors: einem Autor das zulässige Maß an Pessimismus vorzuschreiben, das wäre ein neuer Weg, wer ihn gehen will, sollte bei Schopenhauer üben und sich dann bei Houellebecq bewähren. Zudem kritisiert Thirlwell die ungeschickten Übergänge zwischen den einzelnen Erzählabschnitten. Das zu kritisieren ist zulässig, ohne das aber Kitsch im Spiel wäre, zumal Sebald selbst die Unwahrscheinlichkeit der verschiedenen Treffen mit Austerlitz provokativ fast noch über das Maß des Unmöglichen hinaushebt, sie also als irreal markiert. Man kann sich fragen, warum Sebald überhaupt an der vertrauten Figur des ihm verwandten Icherzählers festgehalten hat. Hätte er die Schilderung des ersten Treffens in Antwerpen so gelassen wie er ist, um Austerlitz dann bei einem einzigen weiteren Treffen seine Lebensgeschichte im Zusammenhang erzählen zu lassen, wäre das Ergebnis womöglich ansprechender gewesen.

Zu Recht betont Schütte, daß Austerlitz trotz der angedeuteten Schwächen hoch über dem Durchschnitt der deutschen Prosaliteratur schwebt. Die besondere Popularität des Buches allerdings beruhe auf den behandelten beliebten Themen wie Holocaust, Trauma, Erinnerung. Zwei so unterschiedliche Köpfe wie Deleuze und Cioran finden unisono zu dem Urteil, daß das sujet conscient nie Träger der künstlerischen Wahrheit sein kann, sondern immer nur les thèmes inconscients, les archétypes involontaires, où les mots, mais aussi les couleurs et les sons prennent leur sens et leur vie (Wortlaut Deleuze, bei Cioran ganz ähnlich). Auf dem so beschriebenen Feld, genau dort, wo sie liegen soll, liegt Sebalds Stärke, und diese Stärke ist auch Austerlitz nicht abzusprechen. Wem das nicht einleuchtet, sollte sich an Wittgensteins goldene Regel halten: Wenn du keine Ahnung hast, halte am besten den Mund.

* Wenn die Verbannung von Austerlitz in die hinterste Startreihe sozusagen das Erste Staatsexamen in der Sebaldkunde sichert, so ist für das Zweite Staatexamen erforderlich, die Schwindel.Gefühle auf die Pole-Position zu setzen. Das zweite Examen haben bislang wenige abgelegt, bekannt sind John Burnside und ein weiterer, der seinen Namen nicht nennen will.

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