Dienstag, 24. September 2019

Geschlossene Fenster

Persiana

Wenn von einem geschlossenen oder verschlossenen Fenster die Rede ist, weiß man nicht ohne weiteres, was geschlossen ist, ob die Fensterflügel, wenn das Fenster denn Flügel hat, oder aber nur die Fensterläden oder Jalousien, wenn das Fenster denn entsprechend ausgerüstet ist, oder sowohl die Flügel als auch die Läden, oder ob die geschlossenen Läden vielleicht nur geöffnete Flügel verbergen. Bei verschlossenen Fenstern geht man zusätzlich von Sicherheitsvorkehrungen an den Flügeln oder Läden oder an beiden aus. Als der Dichter in seinem Hotelzimmer in Venedig erwacht, ist es ein anderes Aufwachen als man es sonst gewohnt ist. Wie oft hat er, die Hände unterm Kopf, mit wachem Entsetzen auf die Brandung des Verkehrs gehört, hier aber bricht der Tag still an, nur einzelne Rufe, das Hinauflassen eines blechernen Rolladens. Die Fensterstellung wird nicht erwähnt, bei geschlossenen Fenster aber, zumindest bei moderner Dreifachverglasung, wäre die von wenigen Geräuschen nur akzentuierte Stille kaum aufgefallen. Am wahrscheinlichsten sind offene Flügel mit einer ausgestellten Persiana - una persiana discretamente socchiusa -, die das Sichtbare filtert, akustische Eindrücke aber kaum beeinträchtigt.

Ist das geöffnete oder das geschlossene Fenster literarisch ergiebiger, der Blick des Bewohners aus oder der Blick des Passanten auf das Fenster? Nicht immer eröffnet sich den Passanten ein ergiebiges Blickfeld. Die Schließung der grünen Fensterläden in der Wohnung der Eheleute Zufrass im Dorf Steinach bei Kissingen ist eine jeweils nur kurze aber sich ständig wiederholende Episode. Immer nämlich, wenn die Regina Zufrass am Abend oder in der Nacht das volltrunkene Jofferle heimgeholt hatte, blieben anderntags die grünen Läden der Wohnung geschlossen. Die geschlossenen Fenster sollen das Elend verbergen, aber das Leben geht weiter, das Jofferle muß wieder ausfahren mit seinem Pferdegespann, und eher über kurz als über lang wird der betrunkene Kutscher wieder im Straßengraben liegen.

In Deauville ist die Lage weitaus weniger episodenhaft. Die Häuser sind scheinbar sämtlich unbewohnt, tatsächlich aber von einer offenbar ausschließlich zur femininen Seite hin orientierten Gattung unbekannter Geistwesen besetzt. Bleibt man eine Zeitlang vor einem der Häuser stehen, tut sich seltsamerweise schon bald einer der geschlossenen Fensterläden etwas auf, und es erscheint eine Hand, die mit auffallend langsamer Bewegung ein Staubtuch ausschüttelt, so als wolle sie dem Passanten mit ihren Staubfetzen ein Zeichen geben. Türen oder andere Vorrichtungen, die es den Geisteswesen erlauben würden, die Häuser zu verlassen oder den Passanten, sie zu betreten, gibt es offenbar nicht, eine genauere Erkundigung der Lage ist insofern nicht möglich.

In Terezín wird man von einer völligen Verhärtung ausgehen. Niederdrückend war das Abweisende der stummen Häuserfronten, hinter deren blinden Fenstern, man mochte noch so oft hinsehen, nirgends ein einziger Vorhang sich rührte. Unmöglich war es sich vorzustellen, wer oder ob überhaupt jemand in diesen öden Gebäuden noch wohnte. Alles scheint auf eine endgültig verlorene Stadt hinzuweisen, deren Fenster sich nie wieder öffnen werden. Auffällig sind allerdings die vielen Aschenkübel, an der Wand entlang aufgereiht, so als seien sie noch im Betrieb.

In Amerika steht ein einsamer Mensch am Fenster. Seine letzten Monate, Wochen und Tage verbringt Cosmo Solomon damit, aus dem Fenster zu schauen. In seinem Geburtshaus stand er mit bewegungslos herabhängenden Armen auf einem Schemelchen und starrte hinaus auf das Meer, wo manchmal, sehr langsam, die Dampfschiffe vorbeifuhren nach Boston oder Halifax. Zur Genesung und Wiederherstellung seiner psychischen Stabilität schickt man ihn mit Adelwarth in das berühmte kanadische Banff Springs Hotel. Auch hier sah er nur viele Stunden lang zum Turmfenster hinaus auf die ungeheuren, ringsherum sich ausdehnenden Tannenwälder und den gleichmäßig aus unvorstellbarer Höhe herabfallenden Schnee. Die Fenstersituation in der Nervenheilanstalt Samaria in Ithaca, in die er schließlich eingeliefert wird, bleibt verborgen.

Nicht jeder, der allein an einem Fenster steht, ist einsam und verloren. Das kleine Haus mit seinem geschindelten Walmdach sah einem auf der Hügelkuppe gestrandeten Schiffchen gleich. Und jedesmal, wenn jemand vorbeikam, schaute gerade der Vater der Romana, der ein verschmitzter Mensch gewesen ist, wie der Noah aus der Arche zu einem der winzigen Fenster heraus und rauchte einen Stumpen auf seinem Waldhörnchen. Man stellt sich vor, die Fensterläden sind nach außen, die Flügel nach innen aufgeschlagen

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