Dienstag, 24. September 2019

W.G. Sebald: Schwindel.Gefühle.

Eine Empfehlung

Das Buch hat keine Romanhandlung, keinen Plot. Es bündelt vier, dem ersten Anschein nach separate Reiseberichte, Berichte von Reisen, die Oberitalien und zumal den Gardasee als Ziel haben, eine Reise Stendhals, eine Reise Kafkas und zwei Reisen des Icherzählers, der große Ähnlichkeit mit dem Autor, Sebald, hat, mit ihm aber nicht identisch ist. Der schöne Fluß der Sätze trägt uns schwere- und mühelos bis ans Ende des Buches, wir schließen das Buch und fragen: Was haben wir da eigentlich gelesen? Was war das denn mit dem Jäger Gracchus, eine, wie jeder weiß, von Kafka ersonnene mythologische Gestalt, die aber, wie wir lesen, fast hundert Jahre vor ihrem Entstehen auch bereits Stendhal begegnet war, und die wir, verwandelt in den ebenfalls von Kafka ersonnenen Jäger Hans Schlag, im Heimatort des Erzählers im Allgäu wiedertreffen. Was war das mit dem heiligen Georg, San Giorgio, den wir auf verschiedenen Bildern Giottos und Pisanellos betrachten dürfen, und den wir dann, wenn wir aufmerksam sind, unter dem Decknamen Giorgio Santini als lebendigen Hochseilartisten in Fleisch und Blut im deutschen Konsulat zu Mailand antreffen. Was ist mit der Zahl 13, die, zumeist verkleidet als Jahreszahl 1913, ständig wieder auftaucht. Was ist mit der seltsamen Schreibweise des Titels &c., in Wien läuft dem Erzähler Dante über den Weg, &c. Die Reiseberichte verwandeln sich keinesfalls in eine Fantasyroman, aber unter der realistischen Oberfläche tut sich mehr und mehr ein unüberschaubares, Schwindelgefühle auslösendes Motivgeflecht auf, wir lesen immer erneut im Buch und finden immer Neues. Der Autor selbst hat uns geholfen in unserer Not und, auf den ersten Blick überraschend, kundgetan, das Buch handele von der Liebe, sei aber keine vermaledeite sogenannte Beziehungsgeschichte, das um alles in der Welt nun wirklich nicht! Es ist freilich Sergio Chejfec, der ausspricht, was als erstes gesagt werden muß, wenn man sich Sebalds Texten zuwendet: Sebald führt den Leser zurück zu einer seit langem so gut wie verlorenen Position: Bewunderung und schiere ästhetische Freude.

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