Heiligenkandidat
In gewisser Weise ist es beruhigend, wenn Agamben mitteilt, am liebsten
seien ihm die Bücher, die er gar nicht versteht. Was aber ist mit den
abenteuerlichen Büchern, die man sofort versteht und dann immer wieder neu,
immer anders und, Deo dante, immer tiefer?
*
Der Dichter unterstützt insgeheim die Neigung seines Personals, den
Beruf aufzugeben oder gar nicht erst zu ergreifen. Austerlitz war 1991
vorzeitig in den Ruhestand getreten. Bereyter, der geborene Melamed, hat den Lehrerberuf bis zur Versetzung in den Ruhestand ausgeübt, vielleicht ein Fehler, denn
glücklich war er damit angesichts der äußeren Umstände und Rahmenbedingungen schon
lange nicht mehr. Dr. Selwyn mußte, wie es heißt, im Jahre 1960 seine Praxis
und seine Patienten aufgeben, der Grund wird allenfalls schemenhaft deutlich. Alec
Garrard hat seinen Beruf als Landwirt so gut wie an den Nagel gehängt, schon
ewig hat er keinen Traktor mehr gefahren, seit zwei Jahrzehnten widmet er sich mit
wachsender Ausschließlichkeit dem Modellbau des Jerusalemer Tempels.
Gleichzeitig aber vergällt der Dichter, der ja alles in der Hand hat, den Berufslosen
die üblicherweise bevorzugte Freizeitbeschäftigung, indem er das von ihm so
genannte Ferienvolk
zum herausragenden Objekt seiner Verachtung macht, ob die Urlauber nun im Miniaturbähnchen
durch die Felder fahren und an verkleidete Hunde oder Seehunde erinnern, ob sie
gegen Mitternacht als eine einzige buntfarbene Menschenmasse sich nach Art
einer Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand
eingezwängten Orts schieben, lauter Lemurengesichter, die, verbrannt und
bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, über den ineinander verschlungenen
Leibern schwanken, oder ob sie in der Bahnhofshalle lagern in ihren
Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden, hingestreckt wie
von schweren Krankheit. Arbeit und Urlaub, das sind die zwei Säulen im Leben
des modernen Menschen, was bleibt ihm, wenn man ihm beides nimmt. Der Richter
Farrar, nunmehr im Ruhestand, erinnert sich nur mit einem gewissen Entsetzen an
das halbe Jahrhundert, das er in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen verbracht
hat, und widmet sich ganz der der Zucht seltener Rosen und Veilchen. Ob das auf
Dauer ohne ergänzende touristische Aktivitäten gereicht hätte, bleibt offen,
denn bald schon kostet ihn der unsachgemäße Umgang mit einem Feuerzeug das
Leben.
Wenn der Dichter von der Berufswelt wenig und von Tourismus und Urlaub erkennbar gar nichts hält, ist das eine Aufforderung, die moderne Lebenssituation zu verlassen. Ein möglicher Ausweg führt zur
Kunst. Sie wird nicht berufsmäßig ausgeübt wird. Jeder Arbeitnehmer bis hinauf
zu den Vorständen hat Anspruch auf die Fünfunddreißigstundenwoche, wer länger
arbeitet, sonnt sich nur im falschen Gefühl seiner Unersetzbarkeit. Aurach dagegen
ist an jedem Tag der Woche vom Morgen bis zum Abend in seinem Atelier und
vernichtet zuverlässig am Morgen das, was er tags zuvor zustande gebracht
hatte. Das sieht nicht nach rationaler Berufsausübung aus. Das Reisen aus touristischen
oder anderen Gründen ist Aurach nicht weniger fremd als der Gedanke an einen
Beruf. An seiner Kunst zweifelt er zutiefst, das wahre Kunstwerk erkennt er in
einem Traumbild, in dem Frohmann, gebürtig aus Drohobycz, auf dem Schoß ein
winziges Modell des Jerusalemer Tempels hält. Das Tempelmodell ist für Aurach
das, was für Bergotte und Proust der kleine gelbe Mauerfleck war: das unzugängliche
Geheimnis des wahren Kunstwerks.
Auf seltsame Weise treffen sich Aurach der Kunstmaler und Garrard der
Landwirt beim Tempel in Jerusalem. Der Tempel ist da, wenn auch nur als
Miniatur, die Kirchen fehlen, kommen nicht ins Bild. Die Bahnhöfe seien die
neuen Kathedralen, heißt es an einer Stelle, aber auch darüber ist die Zeit
längst hinweggegangen. Dabei sind die Kirchen, wie wir alle wissen, sehr wohl und in großer Zahl
vorhanden, die Dome und Kathedralen werden gepflegt und restauriert, und wenn
sie niederbrennen, werden sie sogleich neu errichtet. Aber sie sind unsichtbar
für das innere Auge, weil die Heiligen aus ihnen geflohen und, wie es scheint,
verschwunden sind. Die Heiligen sind verschwunden und wiederum doch nicht. Der
heilige Franziskus
schwimmt einerseits mit dem Gesicht nach unten in einem Schilfbeet,
andererseits hat er sich im stets von Vögeln und Federvieh umflogenen Major Le
Strange reinkarniert. Der heilige Georg lebt weiter als der Zirkusartist
Giorgio Santini und zugleich auch seinerseits in der Gestalt des Major Le
Strange, dem Drachentöter von Bergen Belsen. Der Major, längst berufslos und
ohne jeden Gedanken an eine Ferienreise, ist ein multipler Heiliger, der zusätzlich
auch noch den heiligen Hieronimus beherbergt. Die heilige Katharina schreitet über
die Sümpfe, ein kleines Modell des Rades, auf dem man sie gebrochen hatte, in
der Hand, gleichzeitig lebt sie als Catherine
Ashbury in Irland. So wie Turgenjew eine Adelsnest kennt, kennt der Dichter ein
Heiligennest, die Ashburys. Sie sind ständig beschäftigt, ohne etwas zustande
zu bringen, bauen Schiffe, die nie zu Wasser gelassen werden, verdienen mit all
ihren Aktivitäten keinen Penny, der Gedanke andererseits, sich unter ein
Ferienvolk zu mischen, ist ihnen so fern wie Anfang und Ende des Alls. Den Dichter
reut es, nicht bei ihnen geblieben zu sein, um als Heiligenkandidat ihr immer
unschuldiger werdendes Leben zu teilen.
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