Donnerstag, 5. September 2019

Stills

Selbstbedienung

Noch heute, so der Dichter, reue es ihn, die Einladung zur Teilnahme am Rahmenprogramm der Bregenzer Festspiele angenommen zu haben, in deren Zentrum eine Aufführung der Oper Nabucco stand. Unschlüssig ist er mit seiner Freikarte in der Hand auf dem Vorplatz herumgestanden, bis die letzten Besucher in den Eingängen verschwunden waren, unschlüssig, weil es ihm mit jedem vergehenden Jahr unmöglicher wurde, sich unter ein Publikum zu mischen; unschlüssig, weil er den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen wollte. Das sogenannte Regietheater konnte ihn offenbar nicht verlocken. Dabei hatte er selbst bereits in sehr jungen Jahren eine Neigung zur Neugestaltung klassischer Stücke im Sinne des Regietheaters unter Beweis gestellt. Einen tiefen Eindruck hat in ihm die Aufführung der Räuber im Engelwirtssaal hinterlassen. Sicher ein halbes dutzendmal ist er in dem verdunkelten Saal unter der teilweise bis aus den Nachbardörfern herübergekommenen Zuhörerschaft gesessen. Immer hatte er damals in die Handlung eingreifen und die Amalia mit einem einzigen Wort darüber aufklären wollen, daß sie, um sich aus dem staubigen Kerker in das Paradies der Liebe zu versetzen, wie sie es sich doch wünschte, bloß die Hand hätte ausstrecken müssen. Es hatte ihm dann aber doch der Mut gefehlt, die Regie mit dem Ziel einer grundlegenden Neugestaltung des Stückes an sich zu reißen. Als er Jahrzehnte später auf der Bühne eines kleinen Liebhabertheaters in Berlin die Aufführung eines Dramenfragments von Jakob Michael Reinhold Lenz besucht, ist er in dieser Hinsicht gereift. Aber auch hier ist er in gewisser Weise kein gefügiger Zuschauer, denn mehr als das Drama selbst fesselt ihn die Darstellerin der Catharina von Siena, in der er, so will es ihm scheinen, Catherine aus der Sippe der Ashburys wiedererkennt.

Das wahre Verhältnis des gereiften Dichters zum dramatischen Theater wird uns mithin vorenthalten, umso mehr das zum Kinofilm. Als er in der Jugend eine kurze Phase der imaginären Amerikanisierung durchlebt, während der er streckenweise zu Pferd und streckenweise in einem dunkelblauen Oldsmobile die Vereinigten Staaten durchquert, könnte man als Auslöser zwei führende Genres des amerikanischen Films, den Western und das Road Movie, vermuten. Bestätigt wird das nicht, genannt wird allein Hemingway, der oft, aber nicht in diesem Sektor verfilmte Literat. Es gibt Hinweise, daß der Dichter über die Jahre kein allzu seltener Kinogänger war. Wie schon bei Lenz‘ Dramenfragment erinnern ihn Bilder aus den Filmen an Bilder in seinem Leben. So erkennt er die Trafikantin aus Fellinis Film Amarcord wieder in der Modistin Valerie Schwarz, die bei einer gleichermaßen geringen Körpergröße eine Brust von gleichermaßen gewaltigen Ausmaßen besaß. Auch Austerlitz hatte, als ein beinahe jugendlich wirkender Mann mit blondem, seltsam gewellten Haar, seinen filmischen Widerpart und zwar ausgerechnet in dem deutschen Helden Siegfried in Langs Nibelungenfilm. Lang und Fellini, hochrangige Regisseure von Weltruf, die als solche aber nicht gewürdigt werden. Der Dichter bedient sich des Films für die Kennzeichnung seines sozialen Umfelds, dazu bedarf es nicht des ganzen Films, keiner Szenen, keiner Takes, Stills reichen.

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