Sonntag, 1. September 2019

Am Ziel

Unauffindbar

Angelangt am Ziel gehen die Reisenden auseinander, mit Erleichterung oder mit dem Gefühl der Vergänglichkeit, mit Selbstvorwürfen oder gar mit tiefer Verwirrung. Naturgemäß ist der Dichter erleichtert, als er in Kissingen aus dem Zug steigen kann, befreit von dem schrecklichen Brotzeitesser hat, der in einem fort seine unförmige Zunge wälzte, auf der sich noch Essensreste befanden, die Beine gespreizt, Bauch und Unterleib auf eine grauenerregende Weise eingezwängt in eine kurze Sommerhose. Als er in Mailand auf dem Bahnsteig steht, sind die Franziskanerin und das Mädchen mit der bunten Jacke längst verschwunden, und eine Kostbarkeit wäre auf immer verloren, wenn der Dichter nicht aufgezeichnet hätte, wie sie dasaßen, die Schwester in ihr Brevier und das Mädchen nicht minder versenkt in einen Bilderroman, beide von vollendeter Schönheit, und man konnte nur den tiefen Ernst bewundern, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Als aber die Winterkönigin in Bonn aussteigt, muß er sich ernste Vorwürfe machen, nur dumm und stumm dagestanden zu sein, nachdem sie ihr Gedicht aufgesagt hatte. Wertvolle Erkenntnisse waren für immer verloren und vielleicht noch anderes mehr. In Modena besteigt eine bella Signora den überfüllten Zug nach Finale, sie ist ebenso schön wie die Franziskanerin, das Mädchen mit der bunten Jacke, schön wie die Winterkönigin, und obendrein ist sie Witwe. Sie bietet einem offenbar verwundeten und kranken jungen Offizier, der sich kaum auf den Beinen halten kann, ihren Sitzplatz an. Bevor er zurückkehre an die Front, würde er gern ein bestimmtes Buch eines großen deutschen Dichters lesen, es sei aber, wie ja auch das Buch der Winterkönigin mit dem Titel Das böhmische Meer, nirgends zu finden. Die Signora verneint seine Frage, ob das Buch vielleicht in ihrer Bibliothek anzutreffen sei, wie aber kann sie da so sicher sein bei einer Bibliothek mit mehreren tausend Bänden. Die Signora verläßt den Zug ohne weitere Worte an der nächsten Station. Wie wird sie sich fühlen, wenn sie in den nächsten Tagen vom Tod dessen erfahren sollte, den sie aus Angst vor ihrer aufkeimenden Liebe zurückgestoßen hat. Un libro introvabile ist vielleicht die schönste Erzählung in Delfinis Buch Il ricordo della Basca, ein Buch voller Erzählungen, die von verlorener Liebe handeln, verloren wie Sand, der haltlos durch die Finger rinnt, Finger einer Hand, die sich nicht schließen läßt.

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