Dienstag, 19. Juli 2016

Bucklige und Irre

Volksgesundheit

Wen kann es wundern, wenn es in Belgien bis auf den heutigen Tag eine besondere, von der Zeit der ungehemmten Ausbeutung der Kongokolonie geprägte, in der makabren Atmosphäre gewisser Salons und einer auffallenden Verkrüppelung der Bevölkerung sich manifestierende Häßlichkeit gibt, wie man sie anderwärts nur selten antrifft. Jedenfalls entsinne ich mich genau, daß mir bei meinem ersten Besuch in Brüssel im Dezember 1964 mehr Bucklige und Irre über den Weg gelaufen sind als sonst in einem ganzen Jahr: Einerseits ist die körperliche und geistige Verkrüppelung der Bewohner Brüssels, bei denen es sich keineswegs ausschließlich um Belgier handelt, als eine Art Strafe Gottes für die Kolonialverbrechen zu lesen, andererseits ist nicht zu verkennen, daß der fraglichen Bevölkerungsgruppe, den Buckligen und Irren, die besondere Vorliebe des Dichters gilt, den Irren schon deswegen, weil er sich selbst, wie er gern anmerkt, oft nur als einen Schritt vom Irresein entfernt einschätzt. Bei den Verwachsenen denken wir etwa an den Cicerone in Verona, der bucklig war und so stark vornübergebeugt, daß sein um vieles zu großes Jackett mit dem vorderen Saum bis an den Boden reichte. Unverkennbar steht er dem Herzen des Dichters näher als die Touristenschar, die zu blasiert ist für seine gelehrten Ausführungen. Oder wir denken an den greisen Portier, der so stark vornübergebeugt ging, daß er mit Sicherheit nicht imstand war, von seinem Gegenüber mehr als die Beine und den Unterleib wahrzunehmen. Aufgrund seiner Behinderung hatte er den Gast aus der Entfernung schon mit einem kurzen, aber um so durchdringenderen Blick ins Auge gefaßt. Wortlos begleitete er ihn dann über eine wunderbare Mahagonistiege – man hatte auf ihr gar nicht das Gefühl des Treppaufgehens, sondern schwebte gewissermaßen hinan – in die oberste Etage, wo er ihm ein geräumiges, nach hinten hinaus gelegenes Zimmer anwies: das bucklicht Männlein ist offenbar der Türhüter zum Paradies.

Während die Buckligen und Verwachsenen im veröffentlichten Werk nur kurze Auftritte haben, finden sich in den Korsikaaufzeichnungen zwei ausführliche Skizzen, darin eingeschlossen auch eine Art Lamento auf den Rückzug der Buckligen aus dem öffentlichen Leben. Selten sehe man heutzutage noch einen Buckligen. Früher habe es in fast jedem Ort einen Buckligen gegeben, der im Gemeinschaftsleben eine wichtige Rolle spielte. Aus der Zeit der eigenen Kindheit könne er sich an vier oder fünf Bucklige erinnern zumindest. Ersichtlich hat der Dichter einen sehr eigenen, geradezu devianten Zugang zu den Fragen der Volksgesundheit. Im Flugzeug nach Calvi hat er das Glück, einen Mann mit einem riesigen Buckel vor sich sitzen zu haben. Als er später dann nach einer schnellen Fahrt im Mietwagen das Hotel erreicht, ist der Bucklige, der länger noch am Gepäckförderband hatte warten müssen, zu seinem nicht geringen Erstaunen dort bereits eingetroffen. Auch in den nächsten Tagen ist der Bucklige bei allen möglichen Gelegenheiten immer als erster da. Das nun erinnert ihn an die krumme alte Frau, die vor geraumen Jahren in der Station Stowmarket zugestiegen war. Von der Bechterewschen Krankheit war sie so stark vornübergebeugt, daß sie von rückwärts aussah, als habe sie keinen Kopf. Obwohl sie nach ihm am Bahnhof Liverpool Street ausstieg, saß sie bereits vor ihm in der Circle Line. Auf dem Flug nach Wien saß sie neben ihm. Als er drei Tage später von Graz nach Schwechat zurückkam, war sie auch wieder da. Nach der Ankunft in London lief er so schnell er konnte zur U-Bahn und auf der Fahrt nach Norwich verbarg er sich hinter einer Zeitung. Viel, dachte er einmal, braucht es nicht zum Verrücktwerden.

Bei dem Buckligen und mehr noch bei der krummen Frau, die versehen nur mit einer Einkaufstasche in Wien drei Tage lang die Rückkehr des Erzählers aus Graz abwartet - was anders hätte sie bestellen sollen in der österreichischen Hauptstadt -, handelt es sich offensichtlich um mit übernatürlichen Begabungen ausgestattete Fabelwesen, und was wäre das Verrücktwerden anderes als ein willkommenes Irrewerden an der Normalität.

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