Mittwoch, 1. Januar 2020

Prinzessin

Erlösung


All die schönen Frauen in ihren engen Zellen, wäre es nicht am Erzähler, sie zu erlösen, vor allen anderen die afrikanische Prinzessin im Schalterhäuschen der Londoner U-Bahn. Nie wenn er mit der Bahn durch diese offenbar verhexte Station gefahren ist, hat er jemand ein- oder aussteigen sehen. Nun kommt er von der Straßenseite her und steht auf dem Trottoir vor dem Eingang zu der Station und brauchte, um sich die Mühe des letzten Wegstücks zu ersparen, bloß einzutreten in die dunkle Vorhalle, in der außer der sehr schwarzen, im Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau – offenbar eine verstoßene Königstochter aus Benin - nicht ein lebendiges Wesen zu sehen ist. Wenn draußen an den Gleisen nie jemand ein- oder aussteigt, dann wird die Prinzessin immer in der dunklen Vorhalle in ihrem Schalterhäuschen sitzen müssen. Zwar steht der Erzähler eine beträchtliche Zeit auf der Schwelle und wechselt auch einige Blicke mit der schwarzen Frau, den letzten Schritt aber wagt er nicht zu tun.

Die Begegnung mit den eingeschlossenen Frauen ist immer ein Tête-à-tête, der Erzähler ist allein, im Dunkel ihrer Behausung kann er die Frauen nur unscharf erkennen. Am Ausgang des Giardino Giusti nickt ihm die Pförtnerin aus ihrem dunklen Gehäuse zu, er hat sie flüchtig wohl auch bereits beim Eintritt gesehen, nun ist sie erlöst, sie kann die Hütte verlassen und das Tor zum Garten schließen. Die Kassiererin in der Casa Bonaparte ist zunächst gar nicht zu sehen, erst als der der Erzähler unmittelbar vor dem Tresen steht, entdeckt er, daß dahinter in einem zurückgekippten Bürosessel eine jüngere Frau ruht, womöglich schon seit Napoleons Tagen, eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Franzosenkaiser war jedenfalls nicht zu verkennen. Eine weitere Damen aus der Napoleonlinie erwartet ihn bereits wach und freundlich im oberen Stockwerk, wenn er dann wieder geht und die Casa verläßt, haben die beiden ihre Schuldigkeit getan und können das Haus von außen verschließen. Die Mesnerin in der Chiesa Sant’Anastasia wartet nur darauf, daß der lästige Besucher wieder verschwindet, um ihr Gehäuse aufzusuchen und für immer darin zu bleiben. In der Londoner Nationalgalerie fehlt offenbar eine zuverlässige Wächterin, Besucher sind eingedrungen, die mit dem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit die Säle der Galerie durchwandern, es ist nachzuvollziehen, wenn der Erzähler seinerseits die pflichtvergessene Wächterin nicht beachtet, weder beim Betreten noch beim Verlassen des Gebäudes.

Zurück zur Londoner U-Bahn. Angenommen, der Erzähler wagt den letzten Schritt, löst ein Ticket und erlöst die Königstochter aus Benin. Zum ersten Mal steigt mit ihm jemand ein an der Station, an der aus gutem Grund noch nie jemand eingestiegen ist, viele, endlos viele steigen jetzt aus, schieben sich dahin, eingezwängt auf den Rolltreppen, schwankende ineinander verschlungene Leiber, fluten die Museen und Gärten bis hin nach Italien und Korsika, dem Erzähler bleibt nur die Flucht, Flucht wohin? – seine und unsere Refugien sind verloren.

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