Donnerstag, 26. August 2010

Jedes einzelne Blatt

Baum & Strauch

Si pudiéramos comprender una sola flor sabríamos quiénes somos y qué es el mundo.


Nicht allein die für die damalige Zeit ungeheuer hoch entwickelte Realismuskunst Pisanellos ist es, die mich anzieht, sondern die Art, wie es ihm gelingt, diese Kunst in einer mit der realistischen Malweise eigentlich unvereinbaren Fläche aufgehen zu lassen, in der allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird. - Wenn wir hinter diesen Worten ein allgemeineres, nicht nur auf Pisanello beschränktes Programm sehen, so ist sogleich einzuräumen, daß die Umsetzung in Prosa und damit in die Sprache, der die Fähigkeit zur gleichzeitigen Darstellung des Vielfältigen fehlt, um einiges schwieriger ist als in der Malerei. Kafka versteht es, uns mitzureißen bei der Vorführung der Elf Söhne, einer nach dem anderen, des von ihm erdachten Vaters, aber auch er müßte wohl verzagen, wenn es darum ginge, elf Blätter an einem von Pisanello gezeichneten Zweig in fesselnder Weise erzählend vorzustellen, zumal, anders als bei den Söhnen, jede Dramatisierung der Unterschiede zwischen den einzelnen Blättern unangebracht wäre. Die Pflanzenwelt ist denn auch kaum gegenwärtig in Kafkas Werk.


Das ist bei Sebald erwartungsgemäß anders. Wenn man bei ihm schon die schiere Zahl der auftauchenden Tiere, der Motten, Heringe und Seidenwürmer, die der Menschen bei weitem übersteigt, so ist auch für ihre und der Menschen Einbettung in eine angemessene Flora gesorgt. Wir sehen den Dichter auf dem Abstieg von Oberjoch im Tirol in sein Heimatdorf W.: Nur zu meiner Linken schwebte ein wenig schütteres Licht. Astlose, gut siebzig- bis achtzigjährige Fichten standen die Abhänge hinauf. Selbst diejenigen, die zuunterst aus dem Tobelgrund hervorwuchsen, hatten erst weit überhalb des Niveaus, auf welchem der Weg fortlief, schwarzgrüne Wipfel. Als nach einer halben Wegstunde der Tobel zu Ende ging, blieb ich lang unter den letzten Bäumen stehen und schaute mir, aus dem Dunkel heraus, das wunderbare, weißgraue Schneien an, von dessen Lautlosigkeit die wenige fahle Farbe in den nassen, verlassenen Feldern vollends ausgelöscht wurde.

Noch grandioser als im heimatlichen Schattenwald ist das Baumleben auf der Mittelmeerinsel Korsika: Immense Waldungen steigen aus der blauen Düsternis des Solenzaratals über die steilsten Hänge und bis hinan zu den lotrechten Schroffen und Klippen, auf deren Vorsprüngen, Simsen und obersten Stufen kleinere Baumgruppen standen wie Federbusche auf einem Helm. Auf den ebeneren Flächen der Paßhöhe zu bedeckt ein dichtes Kleid der verschiedenen Kräuter und Sträucher den sanften Boden, und aus all den niedrigen Pflanzen heraus streben die grauen Stämme der Larizio-Pinien, deren grüne Schirme weit, sehr weit droben zu schweben scheinen in der vollkommen klaren Luft. - Aber das ist ein Bild aus der Vergangenheit, denn in der Tat, es war einmal eine Zeit, da war Korsika ganz von Wald überzogen. Stockwerk um Stockwerk wuchs er Jahrtausende hindurch im Wettstreit mit sich selber bis in eine Höhe von fünfzig Meter und mehr, und wer weiß, vielleicht hätten sich größere Arten herausgebildet, Bäume bis in den Himmel hinein, wären die ersten Siedler nicht aufgetreten und hätten sie nicht mit der für ihr Geschlecht bezeichnenden Angst vor dem Ort ihrer Herkunft, den Wald stets weiter zurückgedrängt.

In England erlebt Selysses nicht den Triumph, sondern nurmehr das Sterben der Bäume: Um 1975 hat die von der Südküste ausgehende Ulmenkrankheit Norfolk erreicht, und kaum waren zwei, drei Sommer vergangen, gab es in unserem Umkreis bald keine lebende Ulme mehr. Um dieselbe Zeit begann ich zu bemerken, daß die Kronen der Eschen sich mehr und mehr lichteten und daß das Eichenlaub schütterer wurde und seltsame Mutationsformen zeigte. Die Buchenbestände, die sich bislang einigermaßen gehalten hatten, wurden von einer Reihe extrem trockener Jahre stark in Mitleidenschaft gezogen. Schließlich, im Herbst 1987, fuhr ein Sturm über das Land hinweg, dem nach amtlicher Schätzung über vierzehn Millionen ausgewachsener Bäume zum Opfer gefallen sind. Ganze Waldstücke sind wie Kornfelder niedergedrückt worden. Es war im Morgengrauen, als der Sturm nachgelassen hatte, daß ich mich hinaustraute. Mit zugeschnürter Kehle stand ich lange da inmitten der Verheerung.

Das alles läßt weniger an Pisanello denken, denn an Grünewald diesen seltsamen Mann, dessen Weltsicht sich in den Farben ausbreitet wie eine Krankheit, an den Maler, dem die Schöpfung zum Bild unserer irren Anwesenheit auf der Oberfläche der Erde wird, wo sich hinter einer Gruppe der Klagenden eine so weit in die Tiefe hineingehende Landschaft erstreckt, daß unser Auge nicht ausreicht, sie zu ergründen, ein Stück brauner verbrannter Erde, deren Umriß wie der Kopf eines Walfisches oder Leviathans mit offenem Maul die fahlgrünen Wiesenplane, Senken und sumpfig schimmernde Breite des Wassers verschlingt. Darüber, verbannt hinter den Stufe um Stufe düstrer und dunkler werdenden Horizont, steigen die Hügel auf der Vorgeschichte der Passion, sieht man das Tor des Gartens Gethsemane derart verkleinert, daß aus der Flucht des Raumes spürbar wird die sich überstürzende Zeit.

Dem Maler Max Aurach in der gleichnamigen Erzählung ist, wie er bekennt, die Weltsicht dieses seltsamen Mannes Grünewald von Grund auf gemäß, aber er kennt naturgemäß auch anderes: In der Mitte seines Studios stand die Staffelei mit einem schwarzen, bis zur Unkenntlichkeit überarbeiteten Karton. Nach der an einer zweiten Staffelei angehefteten Vorlage zu schließen, hatte Courbets mir immer besonders liebes Bild Die Eiche des Vercingetorix Aurach zum Ausgangspunkt seiner Zerstörungsstudie gedient. - Zerstörung ist immer das innere Verfahren von Aurachs Schaffensprozeß, warum aber geht er aus von Courbets majestätisch ruhigem und menschenleeren Baumbild, warum wiederholen sich im Inneren der Kunst die Zerstörungen, mit denen wir in der Welt zu leben haben?

Als Folge der Baumvernichtung gerät Selysses in einen Sandsturm als den mineralischen Rückeroberungsangriff auf Fauna und Flora: In dem in der furchtbaren Orkannacht im Oktober 1987 größtenteils zu Bruchholz geschlagenen Wald von Rendelsham verdunkelte sich innerhalb weniger Minuten der gerade noch strahlend hell gewesene Himmel. Das restliche Tageslicht begann zu erlöschen, sämtliche Umrisse verschwanden in der graublauen, bald ohne Unterlaß von mächtigen Böen durchtobten, alles erstickenden Dämmerung. Sogar in nächster Nähe gab es bald nicht mehr die geringste Linie oder Gestalt. Das Staubmehl strömte von links gegen rechts, von rechts gegen links, von allen Seiten gegen alle Seiten, ein einziges Flirren und Flimmern.


Der ganze Südosten Englands scheint von alten, lange zurückliegenden Verheerungen bereits gezeichnet, höhere Pflanzenwuchs, wenn er auftritt, hat urweltlichen Charakter: Der Fußpfad führte um den Verhack herum, durch eine Ginsterböschung auf die Anhöhe einer Lehmklippe hinauf und dort in geringer Entfernung von dem stets von Einbrüchen bedrohten Rand des festen Landes zwischen Adlerfarnen hindurch, von denen die größten mir bis zur Schulter reichten.

Vollends eingekehrt ist eine öde und desolate Wildnis dort, wo der Wanderer auf die Hinterlassenschaft der unerschrockenen, zu blutiger Todesarbeit gewordene Forschungsdrang der neuen Wissenschaft trifft: Lange bin ich dann auf der Brücke gestanden, die hinüberführt in das Terrain des ehemaligen Secret Weapons Research Establishments. Weit hinter mir im Westen zeichneten sich kaum wahrnehmbar die leichten Anhöhen bewohnten Landes ab, nach Norden und Süden glänzte das von einem mageren Rinnsal durchzogene Schlammbett des toten Flußarms, und voraus war nichts als Zerstörung. Wie einem nachgeborenen Fremden, der ohne jedes Wissen herumgeht zwischen den Bergen von Metall- und Maschinenschrott, die wir hinterlassen haben, war es auch mir ein Rätsel, was für Wesen hier einst gelebt und gearbeitet hatte. - Schon Tschechow hatte im Onkel Wanja den Zustand des Waldes als Anzeige für den Zustand der menschlichen Zivilisation genommen, und auch in Sebalds Anwendung ergibt dieses Meßgerät, wie viele andere von ihm zum Einsatz gebrachte, keinen guten Wert.

Dem einzelnen Blatt, dem Pisanellos Aufmerksamkeit gilt, kommt Selysses an keiner Stelle näher, als beim heimlichen Belauschen der chinesischen Kaiserin: Mit besonderer Vorliebe saß sie, wenn es Nacht wurde, ganz für sich nur zwischen den Stellagen und lauschte hingebungsvoll auf das leise, gleichmäßige, ungemein beruhigende Vertilgungsgeräusch, das von den ungezählten, das frische Maulbeerlaub zernagenden Seidenwürmern kam. - Die durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung des einzelnen Blatts ist nicht der Natur als deren Gesetz oder Aussage abgeschaut, sondern entworfen als Aufgabe der Kunst, die sich als realistisch besonders bewährt, wenn sie den Augenblick des Verschwindens erfaßt. Schon der Maler Aurach hatte vermuten lassen, daß, wenn überall im Leben Tod und Vernichtung steckt, es in der Kunst nicht anders sein kann.


Mme Gherardi wurde von einem der Mineure ein zwar toter, dafür aber von Tausenden Kristallen überzogener Zweig zum Geschenk gemacht, an welchem die Strahlen der Sonne so vielfach glitzernd sich brachen wie sonst nur das Licht eines hell erleuchteten Ballsaals an den Diamanten der von den Kavalieren im Kreis herumgeführen Damen: Pisanellos Zweig ist erstorben, seine elf Blätter haben sich in Tausende Kristalle verwandelt und, ähnlich wie Stendhal dahinter einen verborgenen Sinn vermutet, mag man sich fragen, ob das der Weg der Kunst ist, undurchschaubar in ihren Verfahren, wie sich schon in Aurachs Arbeit an Courbets Eiche gezeigt hatte, ihren, der Blätter, durch nichts geschmälerten Daseinsanspruch um den Preis ihres Verschwindens zu behaupten.

1 Kommentar:

Christian Runkel hat gesagt…

Es wäre vielleicht zu ergänzen, daß allein schon die korrekte Benennung einzelner Pflanzen der präzisen bildlichen Wiedergabe entspricht oder sich ihr zumindest annähert. Sebald beherrscht diese Wiedergabe, er hat oft lange Aufzählungen von Pflanzen, die vielen Lesern unbekannt sein dürften.
P.S. Übertroffen wird er in dieser Präzision natürlich noch von Ernst Jünger.