Dienstag, 7. Juni 2022

Billigesser

WÖK

Er weiß nicht, wie er sich in den fremden Städten die Lokale aussucht, in die er einkehrt. Einerseits ist er zu wählerisch und geht stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe er sich entscheiden kann; andererseits gerät er zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehrt dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein ihm in keiner Weise zusagendes Gericht. Seltsamerweise orientiert sich der Dichter in der Essensfrage nicht an seinem Vorbild Wittgenstein, dem es bekanntlich egal war, was er aß, wenn es nur immer das gleich war. Auf Reisen kann es allerdings schwierig sein, immer das gleiche zu essen, man muß nehmen, was da kommt. Einfach und ohne Komplikationen wiederum ist die Essensfrage zu lösen, wenn man sich in Wien aufhält, anstatt der langen Aufenthalte auf Parkbänken, der zunehmenden Neigung, Gaststätten zu vermeiden und, wie es sich ergab, an einem Stehimbiß seine Mahlzeit zu halten oder etwas aus dem Papier zu verzehren, hätte er besser eine WÖK, eine Wiener Öffentlich Küche, aufsuchen sollen und sich ein sowohl schmackhaftes wie auf billiges Mal vorsetzen lassen. Die WÖK kennt vier Delikateßstufen, wobei auch die unterste und preiswerteste  Stufe, die Stufe 1, ein durchaus bekömmliches Gericht anbietet. Wird auf der jeweiligen Stufe nur je ein Gericht angeboten, so daß auf der jeweiligen Stufe alle das gleiche essen? Für die Delikateßstufe 1 ist das mehr als wahrscheinlich, auf den höheren Stufen und insbesondere auf der Stufe 4 mag es variabler zugehen. Die sogenannten Billigesser sind jeden Tag um den gleichen Tisch versammelt und bestellen naturgemäß einheitlich die Delikateßstufe 1. Bei den Billigessern handelt es sich aber keineswegs um unterbezahlte Hilfsarbeiter, die auf jeden Schilling achten müssen, das Billigessen hat einen eher weltanschaulichen Hintergrund, wenn auch unklar ist, welchen. Koller, der selbsternannte Geistesmensch und Geistesathlet,  war nach der Amputation seines Beines infolge eines Hundebisses aufgrund eines Gerichtsbeschlusses vom Eigentümer des Hundes so großzügig finanziell entschädigt worden, daß er ohne weiteres tagtäglich das Menü der Delikateßstufe 4 hätte ordern können, und auch die anderen vier Billigesser hätten zumindest von Zeit zu Zeit die unterste Stufe verlassen können, so auch der, wie man sagt, nicht grade im Geld schwimmende Buchhändler Goldschmidt, ein gleichrangiger wenn auch, was sein Geistestum anbelangt, weniger aufdringlicher Geistesmensch. Die ausschließliche Inanspruchnahme der Delikateßstufe 1 durch die Billigesser ist wohl als Ritus zu verstehen, als verborgene Zeichen des Geheimbundes der Billigesser. Was möchte der Dichter gedacht haben, wenn er unserem Rate folgend die WÖK aufgesucht und die Billigesser an ihrem Tisch vorgefunden hätte. Er hätte sicher nicht versucht, an ihrem Tisch Platz zu nehmen, und sie hätten das auch nicht zugelassen.

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