Mittwoch, 1. Juni 2022

Virtuosen

GGG

Der Dichter ist nicht in einer zum Klaviervirtuosentum anregenden Umgebung aufgewachsen. Jodlergruppen und Blaskapellen gaben im Alpenvorland den Ton an. Am Wochenende hörte der Vater im Radio dank seiner Vorliebe für die altbayrische  Volksmusik die Rottachtaler oder andere eingeborene Musikanten mit ihren Hackbrettern und Zupfgeigen. Das Klarinettenspiel des Lehrers Bereyter hätte den Jungen zu höheren Formen der Musikkunst geleiten können, in seinem Elternhaus aber gab es keine Klarinette, sondern bloß eine ihm sogleich verhaßte Zither. Ein Zithervirtuose hätte er auf keinen Fall werden wollen, selbst wenn er dafür die Fähigkeit gehabt hätte. Nur einmal hat er das verhaßte Instrument freiwillig hervorgezogen und das, als der von ihm über alles geliebte Großvater im Sterben lag. Einen langsamen Ländler in C-Dur hat er ihm vorgetragen und fortan die Zither nicht wieder angerührt. Auch die drei Klaviermusketiere Wertheimer, Glenn und der Erzähler blicken nicht auf musikbegabte und musikbegeisterte Elternhäuser zurück, das Manko stand aber ihrer Karriere nicht im Wege. Zu dritt streben sie eine Laufbahn als Klaviervirtuosen an und besuchen gemeinsam einen Klavierkurs bei Horowitz. Anders als erwartet, stellt sich aber keine gleichmäßiger Aufstieg zum Virtuosentum ein, das Trio löst sich auf. Während Wertheimer und der Erzähler  nur ein wenig näher an Horowitz heranrücken, hat Glenn Gould als Klaviervirtuose Horowitz sogleich übertrumpft. Wertheimer und den Erzähler kann man als Talente, vielleicht sogar als große Talent einordnen, Horowitz als Genie, Glenn aber, das Genie Glenn Gould, kurz GGG, als Hypergenie. Die Goldbergvariationen, Glenns Lieblings- und Paradestück, haben die beiden anderen in einer Art Demut und Niedergeschlagenheit sogleich nicht mehr angefaßt. Wertheimer hat das Klavierspiel noch einige Zeit fortgesetzt, wenn auch nicht als öffentliche Auftritte, der Erzähler hat umgehend seinen Steinway vernichtet, indem er ihn an gänzlich Ungeeignete verschenkt. Glenn führt aus, er könne Künstler und insbesondere Musiker nicht verstehen, die kein Gefühl für ihre Muttersprache haben, er sieht offenbar eine enge Verbindung zwischen Musik und Sprachmusik, für den Erzähler ein Anlaß, von der Musik sich auf Sprachmusik umzustellen, auch wenn der Zusammenhang vielleicht nicht so ausgewogen ist, wie von Glenn vermutet: Nabokow war in gewisser Weise Sprachmusiker ohne Musik und hat zu Protokoll gegeben, bereits eine Viertelstunde Symphonie würde bei ihm regelmäßig eine mehrtägige Magenverstrimmung zur Folge haben. Der Erzähler, erzählt naturgemäß, was zu erzählen ist, also das Geschehen um die drei ursprünglichen Klaviervirtuosen und seinen eigenen Wechsel zum Sprachvirtuosen, dessen Sprachvirtuosität von der Bernhards nicht zu unterscheiden ist. Beschimpfungskaskaden, maßlosen Übertreibungen, Ungenügen und Freitod sind die Grundtonarten, ein Widerhall der Ausweglosigkeit.

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