Dienstag, 21. Juni 2022

Schreiben, niederschreiben

Kontraproduktive Umstände

Er war damals, im Oktober 1980, nach Wien gefahren in der Hoffnung, durch eine Ortsveränderung über eine besonders schwere Zeit hinwegzukommen. Was die besonders schwere Zeit hervorgerufen hat, bleibt ungesagt, war es vielleicht nur eine innere Leere nach der Beendigung eines wissenschaftlichen oder literarischen Projekts? Auffällig ist jedenfalls, daß er während des Aufenthalts in Wien und dann in Italien keinerlei Schreibabsichten zu erkennen gibt, so als habe er kein Schreibgerät dabei. Bei der zweiten Reise, sieben Jahre später, ist er dagegen fortwährend mit Schreiben beschäftigt. Einerseits geht es um die, wie man sagt: Aufarbeitung der ersten Reise, die rückblickend als gefahrvoll eingestuft wird, andererseits wird sogleich eine Art literarisches Tagebuch auch der zweiten, noch nicht abgeschlossenen Reise geführt. Die selbstgestellte Aufgabe, die Erlebnisse der beiden Reisen niederzuschreiben, wird offenbar erfüllt, spätestens während des Aufenthalts in den Oktoberwochen in einem am Ende der Vegetation in einem Hotel oberhalb von Bruneck. Entspanntes Dahinerzählen ist aber etwas ganz anderes als die Niederschrift einer wissenschaftlichen Studie, in der tausend Einzelheiten exakt am richtigen Platz erscheinen müssen. Rudolf, der unverkennbar Ähnlichkeit mit Thomas Bernhard zeigt, hat seine Studie betreffend Mendelssohn Bartholdy begleitet von zahlreichen Notizen vollständig in seinem Kopf gespeichert, er könnte, so scheint ihm, sie von einem Tag auf den anderen niederschreiben, nun aber ist seine Schwester für unbestimmte Zeit zu Besuch bei ihm, in ihrer Gegenwart ist an die Niederschrift der Studie nicht zu denken. Die Schwester ist wieder fort, ihre plötzlich Abwesenheit hinterläßt eine Leere, die sich als Leere im Kopf spiegelt, die Niederschrift ist weiterhin nicht möglich. Rudolf fliegt nach Mallorca und kehrt in seinem geliebten Palma in einem Nobelhotel ein, das absolute Stille und Abgeschlossenheit verspricht, und doch erwarten ihn ungeahnte Schwierigkeiten. Ob es jemals zur Niederschrift gekommen ist, bleibt unbekannt, am Ende der Erzählung ist jedenfalls noch kein Satz zu Papier worden.  Konrad steht vor ähnlichen Schwierigkeiten, er hat alle vorbereitenden Arbeiten für seine bahnbrechende Studie zum Gehör abgeschlossen und ist seinerseits bereit für die Niederschrift. Er hat sich in einem Kalkwerk, das absolute Stille und Ungestörtheit verspricht, wohnlich eingerichtet, Stille und Ungestörtheit treten aber nicht ein. Sobald Konrad am Schreibtisch Platz genommen hat, schellt jemand an der Haustür, und wenn niemand an der Haustür schellt, läutet seine pflegebedürftige Frau. Seit Jahren schon ist alles parat für die Niederschrift der Studie, ohne daß es zur Niederschrift kommt. Letztendlich erschieß Konrad seine Frau, kein förderlicher Akt für die Niederschrift .

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