Kontraproduktive Umstände
Er war damals, im Oktober 1980, nach Wien gefahren in der Hoffnung, durch eine Ortsveränderung über eine besonders schwere Zeit hinwegzukommen. Was die besonders schwere Zeit hervorgerufen hat, bleibt ungesagt, war es vielleicht nur eine innere Leere
nach der Beendigung eines wissenschaftlichen oder literarischen Projekts?
Auffällig ist jedenfalls, daß er während des Aufenthalts in Wien und dann in
Italien keinerlei Schreibabsichten zu erkennen gibt, so als habe er kein Schreibgerät dabei. Bei der zweiten Reise,
sieben Jahre später, ist er dagegen fortwährend mit Schreiben beschäftigt.
Einerseits geht es um die, wie man sagt: Aufarbeitung der ersten Reise,
die rückblickend als gefahrvoll eingestuft wird, andererseits wird sogleich eine Art
literarisches Tagebuch auch der zweiten, noch nicht abgeschlossenen Reise geführt. Die selbstgestellte Aufgabe, die
Erlebnisse der beiden Reisen niederzuschreiben, wird offenbar erfüllt,
spätestens während des Aufenthalts in den Oktoberwochen in einem am Ende der
Vegetation in einem Hotel oberhalb von Bruneck. Entspanntes Dahinerzählen ist
aber etwas ganz anderes als die Niederschrift einer wissenschaftlichen Studie, in der tausend Einzelheiten
exakt am richtigen Platz erscheinen müssen. Rudolf, der unverkennbar Ähnlichkeit mit Thomas Bernhard zeigt, hat seine Studie betreffend Mendelssohn Bartholdy begleitet von zahlreichen Notizen vollständig in seinem Kopf gespeichert, er könnte, so scheint ihm, sie von einem Tag auf den anderen niederschreiben, nun aber ist seine Schwester für unbestimmte Zeit
zu Besuch bei ihm, in ihrer Gegenwart ist an die Niederschrift der Studie nicht
zu denken. Die Schwester ist wieder fort, ihre plötzlich Abwesenheit hinterläßt
eine Leere, die sich als Leere im Kopf spiegelt, die Niederschrift ist weiterhin nicht
möglich. Rudolf fliegt nach Mallorca und kehrt in seinem geliebten Palma in
einem Nobelhotel ein, das absolute Stille und Abgeschlossenheit verspricht, und
doch erwarten ihn ungeahnte Schwierigkeiten. Ob es jemals zur Niederschrift gekommen ist, bleibt unbekannt, am Ende der Erzählung ist jedenfalls noch kein
Satz zu Papier worden. Konrad steht vor ähnlichen Schwierigkeiten, er hat alle vorbereitenden Arbeiten
für seine bahnbrechende Studie zum Gehör abgeschlossen und ist seinerseits bereit für
die Niederschrift. Er hat sich in einem Kalkwerk, das absolute Stille und
Ungestörtheit verspricht, wohnlich eingerichtet, Stille und Ungestörtheit
treten aber nicht ein. Sobald Konrad am Schreibtisch Platz genommen hat,
schellt jemand an der Haustür, und wenn niemand an der Haustür schellt, läutet seine
pflegebedürftige Frau. Seit Jahren schon ist alles parat für die Niederschrift
der Studie, ohne daß es zur Niederschrift kommt. Letztendlich erschieß Konrad
seine Frau, kein förderlicher Akt für die Niederschrift .
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen