Freitag, 30. Oktober 2009
Sebalds Werke
Nach der Natur
Schwindel.Gefühle
Die Ausgewanderten
Die Ringe des Saturn
Austerlitz
Logis in einem Landhaus
Campo Santo
Weitere Veröffentlichungen
Donnerstag, 29. Oktober 2009
Nach der Natur
Das Elementargedicht Nach der Natur wird eröffnet mit einem Blick auf die Tafeln des Lindenhardter Altars und selbst hat es mit den in einer eigenen Weise skizzierten Lebensbildern des Malers Matthias Grünewald (1475/80 –1528), des Naturforschers im Eismeer Georg Wilhelm Steller (1709 – 1746) und des sebaldnahen Erzählers und Wanderers (1946 – 2001), den wir hier Selysses nennen, die Gestalt eines Tryptichons. Fünfhundert Jahre, damit ist die für Sebalds Werk übliche historische Tiefe bereits vorgegeben. Die gesamte Geschichte aber ist vor der Natur und, so bleibt zu ergänzen, auch nach ihr. Die Erstausgabe von Nach der Natur ist mit Photographien versehen von Landschaften, die, so der Eindruck, nicht geeignet sind dafür, daß ein Mensch sie aufsucht. Wie unser eigenes Leben kurz aufblitzt zwischen zwei dunklen Ewigkeiten, so auch das der Gattung, eine einfache Feststellung und zugleich eine Sehnsucht des Dichters. Sicher nicht seine einzige Sehnsucht, noch mehr als in dem Elementargedicht wird in den nachfolgenden Prosawerken die Struktur der Sätze eine eigene Ewigkeit einfordern, und uns für die Zeit der Lektüre vor dem Dunkel bewahren.
Mittwoch, 28. Oktober 2009
Schwindel.Gefühle
Die Schwindel.Gefühle bestehen aus vier Erzählungen und bilden doch wieder, wie schon Nach der Natur, ein Tryptichon. Wieder geht es um zwei historische Gestalten, diesmal aus der Literaturgeschichte, Stendhal und Kafka, und um Selysses, den sebaldnahen Erzähler. Die Erzählung des Selysses ist zweigeteilt in einen transalpinen Aufbruch nach Venedig, Verona, Desenzano, Riva, Mailand, und eine cisalpine Rückkehr nach Wertach, so kommt man von drei auf vier. Selysses hat sich resolut in den Vordergrund bewegt, in Nach der Natur hatte er sich noch mit einem Drittel der Seiten begnügt, in den Schwindel.Gefühlen sind ihm mehr als zwei Drittel des Erzählraums gewidmet. Beim ersten Lesen wird man an vier mehr oder weniger separate Erzählungen glauben und doch das Gefühl einer beunruhigenden Verbundenheit nicht abstreifen können. Der Jäger Gracchus, Kafkas Geschöpf, taucht immer wieder unerwartet auf, bereits Stendhal begegnet ihm, obwohl es ihn zu der Zeit noch gar nicht gab, und in Wertach gibt Gracchus sich als der Jäger Hans Schlag aus. Um die Jahre 1813, 1913 und 2013 bilden sich diverse, vermutlich nicht ungefährliche Strudel. Die Schwindel.Gefühle sind Sebalds persönlichstes Buch, viel italienisches Licht fällt auf die Seiten, und wenn sich auch auf keine Weise der Nachweis führen läßt, es sei das schönste Buch des Autors, so spricht auch nichts dagegen, das wir es besonders lieben. Die unerhellbare Rätselhaftigkeit der Liebe, bei der schon die leichte Krümmung des Ringfingers Emotionen von einer Heftigkeit verursacht, wie man sie bislang noch nicht erfahren hatte, davon handelt das Buch, nach Sebalds eigener Einschätzung, letztendlich.
Und auf allem ruht der Blick des Selysses.
Und auf allem ruht der Blick des Selysses.
Dienstag, 27. Oktober 2009
Die Ausgewanderten
Dieses Buch besteht, wie der Untertitel bestätigt und anders als die Schwindel.Gefühle, tatsächlich aus vier und nicht aus drei langen Erzählungen. Die Position des Selysses hat sich erheblich gewandelt, er ist in allen Erzählungen vertreten aber nirgendwo die Hauptperson. Die vier Erzählungen handeln von Bekannten des Selysses, seinem Hauswirt Dr. Selwyn in Hingham bei Norwich in England, wo er als noch junger Mensch seine Stelle antreten sollte, von seinem Volksschullehrer Paul Bereyter, von seinem Großonkel Adelwarth und vom Maler Max Aurach, den Selysses in Manchester kennengelernt hatte. Die Erzählprotagonisten sind sämtlich von Geschehnissen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geschädigt und aus der Bahn geworfen, begehen Selbstmord oder arrangieren ihren Tod. An die Stelle des Jägers Gracchus aus den Schwindel.Gefühlen tritt ein Schmetterlingsmann, der in den Schweizer Alpen ebenso wie in auftritt wie in Neuengland und der nur schwer von Nabokow zu unterscheiden ist, auch ein Fachmann der Emigration am eigenen Leibe.
Montag, 26. Oktober 2009
Die Ringe des Saturn
Die Ringe des Saturn sind fest in des Selysses Hand. In zehn Kapiteln durchwandert er den Südosten Englands, Somerleyton, Lowestoft, den Saints, Southwold, die Heide von Dunwich. Und doch entgleitet ihm das Geschehen immer wieder. Eine Miniatureisenbahn entführt ihn und uns bis an den kaiserlichen Hof in China in das Zentrum vorweltlicher Machtausübung der Kaiserin Tz’u-hsi. Eine Fernsehsendung der BBC, über der er einschläft, läßt Selysses und uns in einer Art Wiedergutmachung auf den Spuren Joseph Conrads bis nach Sibirien und dann ins Herz der Finsternis am Kongofluß reisen. Wir lernen Chateaubriand und Swinburne besser kennen, als wir sie bislang kannten, Thomas Browne vor allem auch und Edward FitzGerald, viele bizarre Gestalten sodann, von denen wir zuvor noch nie etwas gehört hatten, wie den Major George Wyndham Le Strange in einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenblauen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen, oder Alec Garrad, der den Tempel von Jerusalem in verkleinertem Maßstab naturgetreu nachbaut und schon lange Jahre damit beschäftigt ist. Wir erfahren mehr über den Hering, als wir je zu träumen wagten. All das macht uns glücklich trotz der vielen schrecklichen Dinge, die wir vor allem hören müssen. Ein Faden hält alles zusammen, der endlose, den der Seidenwurm spinnt. Das ganze letzte Kapitel ist diesem Lebewesen gewidmet, das zu den unscheinbarsten überhaupt zählt.
Sonntag, 25. Oktober 2009
Austerlitz
Wer den Einstieg in Sebalds Werk über Austerlitz nimmt, glaubt sicher nichts anderes, als daß es einen Roman liest. Schon vorsichtiger wird sein, wer zuvor schon die Schwindel.Gefühle oder die Ringe des Saturn gelesen hat, Werke, bei denen es schon einiger Kühnheit bedarf, sie als Romane zu titulieren und deren Verwandtschaft mit Austerlitz gleichwohl augenfällig ist. Die Stellung des sebaldnahen Erzählers, Selysses, ist im Austerlitzbuch die gleiche wie in den Ausgewanderten, von ihm aus fällt Licht auf den Protagonisten, in diesem Fall auf den titelgebenden Jacques Austerlitz. Anders als die vier Ausgewanderten ist Austerlitz eines Zufallsbekanntschaft des Selysses, und die Wiederbegegnungen der beiden haben nicht selten einen Grad der Unwahrscheinlichkeit, der in seinem geradezu extravaganten Ausmaß offenbar signalisieren will, auf keinen Fall handele es sich um einen in irgendeiner Weise realistischen Roman. Wie Vergil den Dante, so nimmt Austerlitz den Selysses an die Hand und führt ihn durch die Hölle Europas mit ihrem satanischen Zentrum in Theresienstadt, aber auch, freilich nur kurz, ins Paradies, das in Wales zu finden ist und Andromeda Lodge heißt. Die romanhafte Gestalt des Werkes und damit die fehlende Untergliederung in mehrere recht selbständge Teile machen verbindende Motive schöner Rätselhaftigkeit wie den Jäger Gracchus in den Schwindel.Gefühlen, den Schmetterlingsmann in den Ausgewanderten oder den Seidenwurm in den Ringen des Saturn leider entbehrlich.
Austerlitz hat Sebalds breiteren Ruhm begründet, und ihm den Ruf eines Holocaustdichters eingebracht, der, wie im Essay Luftkrieg und Literatur nachzulesen, auch die Opfer der Bombenflüge gegen Deutschland nicht übersieht.
Austerlitz hat Sebalds breiteren Ruhm begründet, und ihm den Ruf eines Holocaustdichters eingebracht, der, wie im Essay Luftkrieg und Literatur nachzulesen, auch die Opfer der Bombenflüge gegen Deutschland nicht übersieht.
Samstag, 24. Oktober 2009
Logis in einem Landhaus
Der Titel ist dem Eingangssatz von Robert Walsers Kleist in Thun entlehnt. Hier nun hat Sebald sich enge Freunde zu intensiven Gesprächen in die Stille eines Landhauses eingeladen. Es sind durchweg Alemannen, wenn man denn den aus Genf gebürtigen Jean-Jacques Rousseau als Randalemannen durchgehen lassen will, etwas wagemutig, aber schließlich ist die Westschweiz ein franko-alemannisches Misch- und Übergangsgebiet, im Kanton Bern etwa gibt es auch nach der Abtrennung des Kantons Jura noch eine frankophone Minderheit. Der Rousseauaufsatz hat aber in jedem Fall eine Sonderstellung in dem Buch, es ist das ganz und gar literarische Bildnis eines Literaten und könnte gut zwischen den Bildnissen des Vicomte de Chateaubriand und des Algernon Swinburne in den Ringen des Saturn hängen, wenn sich denn auf der englischen Wallfahrt ein Anknüpfungspunkt ergeben hätte. Mörike, noch mehr aber den zwei Schweizerbürgern Keller und Robert Walser und dem Schweizergrenzbürger Hebel nähert sich Sebald mit der tiefen Liebe des Dichterfreundes aber auch mit dem Handwerkszeug des Literaturwissenschaftlers. Der letzte Aufsatz betrifft Jan Peter Tripp und auch der hat eine Sonderstellung, einmal weil Tripp nicht Literat, sondern Maler ist und zum anderen, weil er ein Freund Sebalds zu Lebzeiten war, diesseits der Trennlinie des Todes, einer immer erwähnenswehrten Linie, auch wenn Sebald sie für die Toten nach Möglichkeit durchlässig gestaltet hat.
Freitag, 23. Oktober 2009
Campo Santo
Der Nachlaßband Campo Santo ist vom Herausgeber in Prosa und Essays unterteilt. Zur Prosa rechnen drei Kapitel des geplanten, dann aber zugunsten von Austerlitz aufgegebenen oder doch liegengelassenen Korsikabuches und die Erzählung La cour de l’ancienne école, die auf engstem Raum den ganzen Sebaldzauber entfaltet. Zur Prosa hätten besser auch gezählt werden sollen der kurze Lebensbericht Moments musicaux und ferner Scomber scombrus, ein virtuoses Stückchen über die Makrele und anderes.
Donnerstag, 22. Oktober 2009
Weitere Veröffentlichungen
Erschienen ist ferner in Zusammenarbeit mit dem Maler Jan Peter Tripp der Band Unerzählt, ferner der posthume Gedichtband Über das Land und das Wasser, die beiden Aufsatzsammlungen Unheimliche Heimat und Die Beschreibung des Unglücks sowie die Kampfschrift Luftkrieg und Literatur.
Donnerstag, 1. Oktober 2009
Lesen, Sebald lesen
Ascencion
I’m learning to fly, but I ain’t got wings
Coming down is the hardest thing
Die Überholvorgänge verliefen so langsam, daß man, während man Zoll für Zoll sich nach vorn schob oder zurückfiel, sozusagen zu einem Reisebekannten seines Spurnachbarn wurde. Beispielsweise befand ich mich einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder mir durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie mich als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herzgeschlossen hatten, und als sie an der Ausfahrt nach Hurleyville in einem weiten Bogen von mir sich trennten, da fühlte ich mich eine Zeitlang ziemlich allein und verlassen.
Man kann diese Passage lesen als Metapher der üblichen Begegnung mit einem Buch. Man trifft sich mehr oder weniger zufällig, verbringt eine nicht geringe Zeit miteinander, verspürt am Ende einen Augenblick der Niedergeschlagenheit, und was bleibt, ist, im günstigen Fall, eine glückliche Erinnerung. Man mag sich auf ähnliche Weise ein weiteres Mal begegnen bei gleichem Ablauf, der Augenblick der Tristesse beim Abschied mag entfallen oder sich verstärken, bei einer dritten Begegnung aber wird man wohl anhalten und sich bekannt machen und vielleicht das Wagnis einer wahren Freundschaft eingehen.
Im Fall der Lektüre steigen nicht Menschen aus einem Fahrzeug, sondern in die Augen schauen sich ein dichterisches Vermögen und ein Lesevermögen, das, wie auch immer bescheidene, Züge eines dichterischen Vermögens aufweisen sollte. Unsere Geschichten gelingen nur in dem Maß, als sie sich als ein eigenständiges Modell zwischen der Phantasie des Autors und derjenigen des Lesers einrichten. Alles kommt darauf an, daß das Lesen sich in diesem Zwischenraum einrichtet und allen Versuchungen widersteht, ihn zu verlassen. Das gilt umso mehr, wenn der Leser sich seinerseits anschickt, seine Gedanken und Eindrücke zu sammeln und zu ordnen für einen Versuch, den gemeinsamen Raum der Phantasie von seiner Seite aus zu erfassen, vielleicht sogar in der Schriftform. Die Versuchungen, denen er dabei ausgesetzt ist, tragen vorzugsweise wissenschaftliche Masken reduktionistischer Machart.
Regelmäßig lockt die Versuchung des Biographismus und Psychologismus. So sind etwa ein Vatertrauma und eine psychoanalytische Fixierung des Schriftstellers W.G. Sebald bloßgelegt worden. Die Wehrmachtsvergangenheit des Vaters sei beim Sohn mit dem germanischen Namen Winfried in Selbsthaß umgeschlagen, dieser wiederum habe dann zu einer heillosen Geschichtsphilosophie geführt. – Was hat der Leser damit gewonnen für sein Lesen? Den Raum zwischen der Phantasie des Autors und seiner eigenen hat er mit Überlegungen dieser Art sicher verlassen.
Noch verbreiteter ist das, was als Thematismus bezeichnet werden könnte, das alleinige oder doch weitgehende Abstellen auf die Themen der Prosa. Mit der Berücksichtigung des Holocaustthemas vor allem in Austerlitz war die Ernennung zum prime speaker of the Holocaust wohl nicht vermeidbar. Beim Thema des Holocaust fühlen sich viele - und wahrscheinlich völlig zu recht - befähigt mitzureden, aber nur wenige unter ihnen offenbar verfügen über ein Lesevermögen, das Züge eines dichterischen Vermögens aufweist.
Soziologismus, Historismus &c. sind weitere Klippen, von denen fader Sirenensang ertönt. All das kann ohne weiteres mitschweben bei der Lektüre - und je mehr und tiefer wir einen Dichter lesen, desto nachdrücklicher wird uns nicht selten seine Gestalt und zumal sein Antlitz zum Abbild seiner Texte, so als liege dort ihr Geheimnis verborgen, so als könnten wir sie auch unmittelbar dort entziffern -, viel kann also mitschweben und sich überblenden, ständig aber muß klar bleiben, daß Dichtung hier erst beginnt und in ihren eigenen Bahnen fortfährt, indem sie alles Vorausliegende nur als Material zu benutzt, ähnlich wie die Worte die Phoneme als Material benutzen. Wer einem der Sirenenliedchen folgt und sich ihm ausliefert bis hin zum reduktionistischen, es sei „nichts anderes als“, der steht mit den Worten des Dichters zwar nicht unbedingt stumm aber doch dumm und betrogen da.
Höchste und kaum zu erreichende Maßstäbe setzen Sebalds eigene Leseabenteuer, sofern sie Gegenstände seiner Prosa werden, seine Begegnungen etwa mit Stendhal und Kafka in den Schwindel.Gefühlen oder mit Rousseau im Landhaus. Ohne den Blick so hoch zu heben, wird in den kleinen Sebaldstücken im Verlauf immer neue Lesedurchgänge versucht, die Textur vorsichtig einmal hier und einmal dort ein wenig anzuheben, um, unter Vermeidung von Verletzungen, genauere Blicke zu ermöglichen, Blicke auf das Vorhandene und, nicht weniger wichtig, Blicke auf das Fehlende wie etwa Kinder, Ehepaare, Berufstätige. Ab und zu, das ist zu gestehen, kann beim fortwährenden Lesen dann ein übermütiges Gefühl aufkommen ähnlich dem, das sich einstellte, als man vor langen Jahren auf dem Schoß des Großvaters sitzend, weit über das wirkliche Vermögen hinausgehend, das Steuerrad des fahrenden Autos betätigen durfte.
Unter allen Motivfäden scheint einer vor allem das Muster zu bestimmen und zwar der, der die Flieger mit den Vögeln und den Heiligen verbindet. Zwar gelingt es Thomas Browne, unter anderem wegen dieser enormen Belastung nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation. – Das Thomas Browne Abgelesene gilt uns als Offenlegung der eigenen künstlerischen Absicht, Levitation also als letztes Ziel auch der Prosa Sebalds, das Schweben aber taugt nur dann etwas, wenn es die ganze Schwere des Lebens und Leidens mit sich trägt. Das Christentum hat sich ikonographisch am Kreuz festgemacht, beansprucht gleichzeitig, Frohe Botschaft zu sein und läßt der Crucificatio die Ascencio Christi folgen.
Sebald wählt den dem ästhetischen Effekt angepaßten Begriff der Levitation, die vielen Heiligen im Werk lassen ohne weiteres auch an Ascencion denken. Allerdings gelingt den Heiligen ihr spirituelles Kunststück nur noch unvollkommen: In solcher Zahl hingen die weißverhüllten Stengel unter dem Bibliotheksplafond, daß sie eine Art Papierwolke bildeten, in der Mrs. Ashbury, wenn sie, auf der Bibliotheksstaffelei stehend, mit dem Aufhängen oder Abnehmen der raschelnden Samenbehälter beschäftigt war, wie eine in den Himmel auffahrende Heilige verschwand. - Die alte Nähe aber von Kunst und Religion ist auf eigenartige Weise gewahrt.
Levitation & Ascencion sind nicht Thema der Prosa Sebalds, sie sind ihre innerste Gestalt, die Seinsweise, die sie für uns, die Leser, bereitstellt als frohe Botschaft einer streng textimmanenten Erlösung. Coming down is the hardest thing, das gilt für Sebaldleser in ganz besonderem Maße. Sie müssen fliegen lernen, auch wenn sie vielleicht von haus aus keine Flügel haben, und sollten, wie die Mauersegler, einmal aufgestiegen, nie wieder zur Erde zurückkehren. Viele aber schlagen heftig auf, und selbst die weiche Landung ist hart, und wer gar nicht erst aufgestiegen ist, hat es nicht besser getroffen.
Coming down is the hardest thing
Die Überholvorgänge verliefen so langsam, daß man, während man Zoll für Zoll sich nach vorn schob oder zurückfiel, sozusagen zu einem Reisebekannten seines Spurnachbarn wurde. Beispielsweise befand ich mich einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder mir durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie mich als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herzgeschlossen hatten, und als sie an der Ausfahrt nach Hurleyville in einem weiten Bogen von mir sich trennten, da fühlte ich mich eine Zeitlang ziemlich allein und verlassen.
Man kann diese Passage lesen als Metapher der üblichen Begegnung mit einem Buch. Man trifft sich mehr oder weniger zufällig, verbringt eine nicht geringe Zeit miteinander, verspürt am Ende einen Augenblick der Niedergeschlagenheit, und was bleibt, ist, im günstigen Fall, eine glückliche Erinnerung. Man mag sich auf ähnliche Weise ein weiteres Mal begegnen bei gleichem Ablauf, der Augenblick der Tristesse beim Abschied mag entfallen oder sich verstärken, bei einer dritten Begegnung aber wird man wohl anhalten und sich bekannt machen und vielleicht das Wagnis einer wahren Freundschaft eingehen.
Im Fall der Lektüre steigen nicht Menschen aus einem Fahrzeug, sondern in die Augen schauen sich ein dichterisches Vermögen und ein Lesevermögen, das, wie auch immer bescheidene, Züge eines dichterischen Vermögens aufweisen sollte. Unsere Geschichten gelingen nur in dem Maß, als sie sich als ein eigenständiges Modell zwischen der Phantasie des Autors und derjenigen des Lesers einrichten. Alles kommt darauf an, daß das Lesen sich in diesem Zwischenraum einrichtet und allen Versuchungen widersteht, ihn zu verlassen. Das gilt umso mehr, wenn der Leser sich seinerseits anschickt, seine Gedanken und Eindrücke zu sammeln und zu ordnen für einen Versuch, den gemeinsamen Raum der Phantasie von seiner Seite aus zu erfassen, vielleicht sogar in der Schriftform. Die Versuchungen, denen er dabei ausgesetzt ist, tragen vorzugsweise wissenschaftliche Masken reduktionistischer Machart.
Regelmäßig lockt die Versuchung des Biographismus und Psychologismus. So sind etwa ein Vatertrauma und eine psychoanalytische Fixierung des Schriftstellers W.G. Sebald bloßgelegt worden. Die Wehrmachtsvergangenheit des Vaters sei beim Sohn mit dem germanischen Namen Winfried in Selbsthaß umgeschlagen, dieser wiederum habe dann zu einer heillosen Geschichtsphilosophie geführt. – Was hat der Leser damit gewonnen für sein Lesen? Den Raum zwischen der Phantasie des Autors und seiner eigenen hat er mit Überlegungen dieser Art sicher verlassen.
Noch verbreiteter ist das, was als Thematismus bezeichnet werden könnte, das alleinige oder doch weitgehende Abstellen auf die Themen der Prosa. Mit der Berücksichtigung des Holocaustthemas vor allem in Austerlitz war die Ernennung zum prime speaker of the Holocaust wohl nicht vermeidbar. Beim Thema des Holocaust fühlen sich viele - und wahrscheinlich völlig zu recht - befähigt mitzureden, aber nur wenige unter ihnen offenbar verfügen über ein Lesevermögen, das Züge eines dichterischen Vermögens aufweist.
Soziologismus, Historismus &c. sind weitere Klippen, von denen fader Sirenensang ertönt. All das kann ohne weiteres mitschweben bei der Lektüre - und je mehr und tiefer wir einen Dichter lesen, desto nachdrücklicher wird uns nicht selten seine Gestalt und zumal sein Antlitz zum Abbild seiner Texte, so als liege dort ihr Geheimnis verborgen, so als könnten wir sie auch unmittelbar dort entziffern -, viel kann also mitschweben und sich überblenden, ständig aber muß klar bleiben, daß Dichtung hier erst beginnt und in ihren eigenen Bahnen fortfährt, indem sie alles Vorausliegende nur als Material zu benutzt, ähnlich wie die Worte die Phoneme als Material benutzen. Wer einem der Sirenenliedchen folgt und sich ihm ausliefert bis hin zum reduktionistischen, es sei „nichts anderes als“, der steht mit den Worten des Dichters zwar nicht unbedingt stumm aber doch dumm und betrogen da.
Höchste und kaum zu erreichende Maßstäbe setzen Sebalds eigene Leseabenteuer, sofern sie Gegenstände seiner Prosa werden, seine Begegnungen etwa mit Stendhal und Kafka in den Schwindel.Gefühlen oder mit Rousseau im Landhaus. Ohne den Blick so hoch zu heben, wird in den kleinen Sebaldstücken im Verlauf immer neue Lesedurchgänge versucht, die Textur vorsichtig einmal hier und einmal dort ein wenig anzuheben, um, unter Vermeidung von Verletzungen, genauere Blicke zu ermöglichen, Blicke auf das Vorhandene und, nicht weniger wichtig, Blicke auf das Fehlende wie etwa Kinder, Ehepaare, Berufstätige. Ab und zu, das ist zu gestehen, kann beim fortwährenden Lesen dann ein übermütiges Gefühl aufkommen ähnlich dem, das sich einstellte, als man vor langen Jahren auf dem Schoß des Großvaters sitzend, weit über das wirkliche Vermögen hinausgehend, das Steuerrad des fahrenden Autos betätigen durfte.
Unter allen Motivfäden scheint einer vor allem das Muster zu bestimmen und zwar der, der die Flieger mit den Vögeln und den Heiligen verbindet. Zwar gelingt es Thomas Browne, unter anderem wegen dieser enormen Belastung nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation. – Das Thomas Browne Abgelesene gilt uns als Offenlegung der eigenen künstlerischen Absicht, Levitation also als letztes Ziel auch der Prosa Sebalds, das Schweben aber taugt nur dann etwas, wenn es die ganze Schwere des Lebens und Leidens mit sich trägt. Das Christentum hat sich ikonographisch am Kreuz festgemacht, beansprucht gleichzeitig, Frohe Botschaft zu sein und läßt der Crucificatio die Ascencio Christi folgen.
Sebald wählt den dem ästhetischen Effekt angepaßten Begriff der Levitation, die vielen Heiligen im Werk lassen ohne weiteres auch an Ascencion denken. Allerdings gelingt den Heiligen ihr spirituelles Kunststück nur noch unvollkommen: In solcher Zahl hingen die weißverhüllten Stengel unter dem Bibliotheksplafond, daß sie eine Art Papierwolke bildeten, in der Mrs. Ashbury, wenn sie, auf der Bibliotheksstaffelei stehend, mit dem Aufhängen oder Abnehmen der raschelnden Samenbehälter beschäftigt war, wie eine in den Himmel auffahrende Heilige verschwand. - Die alte Nähe aber von Kunst und Religion ist auf eigenartige Weise gewahrt.
Levitation & Ascencion sind nicht Thema der Prosa Sebalds, sie sind ihre innerste Gestalt, die Seinsweise, die sie für uns, die Leser, bereitstellt als frohe Botschaft einer streng textimmanenten Erlösung. Coming down is the hardest thing, das gilt für Sebaldleser in ganz besonderem Maße. Sie müssen fliegen lernen, auch wenn sie vielleicht von haus aus keine Flügel haben, und sollten, wie die Mauersegler, einmal aufgestiegen, nie wieder zur Erde zurückkehren. Viele aber schlagen heftig auf, und selbst die weiche Landung ist hart, und wer gar nicht erst aufgestiegen ist, hat es nicht besser getroffen.
Abonnieren
Posts (Atom)