Sonntag, 22. Februar 2009

Der Ruhestand der Eremiten

Berufe & Beschäftigungen

Wenn das Tun - wie Hegel sagt - die Negativität ist, so möchte man wissen, ob die Negativität desjenigen, der nichts mehr zu tun hat, schwindet.


Karrieremenschen oder solche, die sich, wie es heißt, im Beruf verwirklichen wollen, treten im Sebalds Welt nicht auf oder allenfalls ganz am Rande. Der Idee eines Karrierebeamten am nächsten kommt womöglich Frederick Farrar, der es zum Richter gebracht hatte, eine hohes Amt zumal in England. Sein Rückblick auf das Berufsleben läßt aber einen nur niedrigen Grad der inneren Verbundenheit erkennen. Farrar hatte auf Wunsch seines Vaters in Cambridge und London Rechtswissenschaften studiert und in der Folge, wie er mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Er war in den Ruhestand eingetreten, um sich der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen.

Auf verschiedene Berufsgruppen in Sebalds Werk haben wir schon monographische Blicke gerufen und müssen nur noch rekapitulieren. Der Lehrerstand ist durch zwei Enthusiasten, Paul Bereyter und André Hilary, vertreten, denen ihr Beruf Berufung ist, sie sind ihm sozusagen nach oben entflogen. Das gilt naturgemäß umso mehr für die Flieger. Berufspiloten sind gar nicht zugelassen. Der nicht kleine Schar der Flieger in Sebalds Werk ist das Fliegen reine Leidenschaft und Lebensnotwendigkeit. Auch die Gärtner sind nicht Berufstätige im landläufigen Sinne. Die Gartenarbeit ist eine Art tätiger Untätigkeit, teils Therapie, teils Lebensform, teils, wie bei Frederick Farrar, letzendliches Lebensziel.

Bei den Ärzten könnte der Dr. Piazolo zunächst als ein radikal dem Beruf Verschriebener erscheinen. Robust, solide, immer auf Achse, hatte er offenbar den Vorsatz gefaßt, im Sattel seines Motorrads zu sterben. Aber nicht nur, daß ihm das Motorrad möglicherweise näher steht als die Heilkunst, bei Licht besehenen handelt es sich bei ihm um eine mythologische Gestalt, der gelingt, was zuvor niemandem gelungen war, nämlich dem Jäger Gracchus den Totenschein auszustellen - und auch daß Hans Schlag alias Gracchus der nüchternen Exemplifizierung des Berufsstandes der Waidwerker dient, wird niemand behaupten wollen. Ein im Sinne Sebalds wahrer Vertreter des Ärztestandes ist einmal der Dr. Rambousek, aus Mähren zugewandert und wie Kafka, einer der von Haus aus Untröstlichen, und zum anderen der Dr. Abramsky, als Selysses ihn in Ithaca besucht, bereits ein demissionierter Eremit.

Unter den Handwerker ist der Schneider Moravec ein für immer auf kurzen Moment nur geschrumpftes Bild in der Erinnerung Austerlitz’. Am wichtigsten aber sei es gewesen, den Augenblick nicht zu versäumen, da Moravec die Nadel und den Faden, die große Schere und sein sonstiges Handwerkszeug weglegte, den mit Filz überzogenen Arbeitstisch abräumte, ein doppeltes Zeitungsblatt auf ihm ausbreitete und auf diesem Zeitungsblatt das Nachtessen, auf das er gewiß die längste Zeit sich schon gefreut hatte und das abwechslungsweise und je nach der Saison aus etwas Weichkäse mit Schnittlauch, ein paar Tomaten mit Zwiebeln, einem geräucherten Hering oder aus gesottenen Kartoffeln bestand. Weiteres aus dem lebendigen Schicksal des Schneiders erfahren wir nicht. Ausführlich nehmen wir dagegen Kenntnis vom traurigen Lebensverkauf des Wagners Peter Seelos, der sich, ähnlich dem Dr. Abramsky, allmählich aus einem Beruf verabschiedet. Er vernachlässigte die Wagnerei mehr und mehr, nahm Aufträge zwar noch an, führte sie aber nur zur Hälfte oder gar nicht aus und verlegte sich darauf, komplizierte pseudoarchitektonische Pläne zu machen. Er ist dann ins Spital nach Pfronten eingeliefert worden, hat sich aber im Spital nicht halten lassen, sondern ist in ersten nacht auf und davon. Man ist bis heute nicht auf die geringste Spur gestoßen von ihm. Das Leben des Spenglers Kasimir ist nicht ohne Schicksalsschläge aber doch in geordneteren Bahnen verlaufen vom Bau des neuen Kupferdaches der Augsburger Synagoge bis zu den Kupferspitzhauben des General Electric Building, inzwischen lebt er als Ruheständler in einer retirement community in Lakehurst. - Soweit die Handwerker. Der Landwirt Alec Garrad hat sich ebenfalls weitgehend vom Beruf zurückgezogen und baut seit gut zwei Jahrzehnten vermehrt nur noch an einem Modell des Tempels von Jerusalem.

Die zahllosen Empfangsdamen, denen wir begegnen, verrichten ihre Arbeit mit seltsamer Langsamkeit und ähneln weitaus mehr nachgeordnete Schicksalsgöttinnen als Berufstätigen im üblichen Sinn. Auch Krankenschwestern und Flughafenansagerinnen haben Merkmale zweifelhafter Engelhaftigkeit. Unter all diesen nur schwach an den Beruf gebundenen fallen die Erwerbslosen gar nicht sonderlich auf. Die Schwestern Babett und Bina betreiben das Café Alpenrose, das bis zu ihrem Tod fortbestanden hat, obschon niemand jemals in es hineingegangen ist. Die Mitglieder der Familie Ashbury beschäftigen sich ausschließlich mit ziel- und nutzlose Tätigkeiten, für ihr Auskommen sorgen offenbar himmlische Kräfte.


Auch bei den Reichen, auf der anderen Seite der Skala, ist eine Verbindung zur Arbeit nicht zu erkennen. Cosmo Solomon, Sebalds dunkler Prinz des Reichtums und vielleicht der eigentliche Protagonist der Erzählung Ambros Adelwarth, arbeitet nicht an der Vermehrung seiner Vermögens, sondern versucht es und auch sich selbst durch verschiedene Formen intensiven Müßiggang zu zerstören.

Immer wieder taucht eine Sehnsucht nach vollständiger Untätigkeit auf, die sich naturgemäß nicht erfüllen kann: Die Bilder Pisanellos haben in mir vor Jahren schon den Wunsch erweckt, alles aufgeben zu können außer dem Schauen. Und weiter: Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn ich in einer dieser steinernen Burgen wohnte, bis an mein Lebensende mit nichts beschäftigt als mit dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit. Weil aber keiner von uns wirklich still sein kann wurde das in mir aufgetauchte Wunschbild bald schon verdrängt von dem Bedürfnis, den Nachmittag irgendwie auszufüllen, und also fand ich mich, kaum daß ich wußte, wie, in der Eingangshalle des Musée Fesch mit Notizbuch und Bleistift und einem Billet in der Hand. Oder aber: Die von der gewohnheitsmäßigen Schreib- und Gartenarbeit nun nicht mehr ausgefüllten Tage wurden mir ungemein lang, und ich wußte tatsächlich nicht mehr, wohin mich wenden.

Nicht so sehr Tätigkeit erscheint als Fluch im Sinne des biblischen Mythos, sondern der unaufhebbare Gegensatz von Ruhebedürfnis und Unrast, umgesetzt in die Klapper von Arbeit und Freizeit, nach der zu tanzen wir gelernt haben. Gartenarbeit und Schreiben erscheinen als denkbare Tätigkeiten zur Aufhebung des Gegensatzes. Die Hochschullehrer sind weniger zu den Lehrern zu zählen als zu den Schreibenden und werden ferner auffällig durch betonte Nichtteilnahme am die moderne Arbeitswelt begründenden Basar: Michael Parkinson zeichnete sich aus durch eine Bedürfnislosigkeit, von der manche behaupteten, daß sie ans Exzentrische grenzte. In der Sommervakanz machte Michael regelmäßig lange, mit seinen Ramuzstudien in Verbindung stehende Reisen zu Fuß durch das Wallis und das Waadtland. Oft, wenn er von einer solchen Reise zurückkam oder wenn ich den Ernst bewunderte, mit dem er stets seine Arbeit verrichtete, schien es mir, als habe er, auf seine Weise das Glück gefunden in einer inzwischen kaum mehr denkbaren Form von Bescheidenheit. Janine Darkyns ihrerseits ist Romanistin und vor allem Flaubertforscherin: In einem Sandkorn im Saum eines Winterkleides der Emma Bovary hat Flaubert die ganze Sahara gesehen, und jedes Stäubchen wog für ihn soviel wie das Atlasgebirge. – Ob man aber durch das Schreiben klüger oder verrückter wird, vermag niemand zu sagen.

Damit nähern wir uns bereits mit großen Schritten der Berufsgruppe, die bei Sebald allen anderen Berufen übergeordnet ist und zu der alle anderen hinstreben, die Berufsgruppe der Heiligen und der Seltsamen Heiligen, der Eremiten und der Narren nicht in Christo. In der männlichen Abteilung werden die derart Berufstätigen angeführt vom Major Wyndham Le Strange, der nachmals wie ein Heiliger Franz ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen, Tauben und Wachteln, die teils am Boden um ihn herliefen, teils in der Luft ihn umflogen, um sich überdies in seinem Garten eine Höhle auszuheben, in der er dann tage- und nächtelang gesessen habe gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste. An der Spitze der weiblichen Abteilung steht Mrs. Ashbury und ihr Tag für Tag unschuldiger werdendes Leben. In solcher Zahl hingen die weißverhüllten Stengel unter dem Bibliotheksplafond, daß sie eine Art Papierwolke bildeten, in der Mrs. Ashbury, wenn sie, auf der Bibliotheksstaffelei stehend, mit dem Aufhängen oder Abnehmen der raschelnden Samenbehälter beschäftigt war, wie eine in den Himmel auffahrende Heilige verschwand. Der untere Teil der Heiligen bleibt sichtbar für uns, der Plafond ist verdeckt und abseitig der Gedanke, daß durch ihn hindurch wie in einer barocken Kirchenkuppel die Auffahrt möglich sei. Sebalds Welt ist eine mönchische Welt Ungläubiger, eine Welt mönchischer Existenzen ohne rechtfertigenden Gott, eine Welt bevölkert von Menschen, die sich um ihre sterbliche Seele kümmern so, als sei sie unsterblich. Bis an ihr Lebensende möchten sie mit nichts beschäftigt als mit dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit: Ist das eine Hinwendung vom Leben zum Tod oder nicht vielmehr ein Entkommen aus der falschen Welt, in die wir gewissermaßen ohne unser eigenes Zutun geraten waren?

Wo immer man Sebalds Textgewebe anhebt, um einzelne Fäden genauer zu betrachten, ergibt sich das Bild einer erstaunlich dicht verwobenen Textur. Niemand wird glauben, der Dichter habe sich planvoll und womöglich in der sogenannten kritischen Absicht an die Darstellung der zeitgenössischen Berufswelt begeben. Das Immunsystem seiner Erzählwelt läßt Aussteiger und Ausgewanderte beliebiger Art und Zahl passieren und weist quirlige Berufsversessene ab. Die arbeitsteilig organisierte und über Karrieren integrierte Welt, die wir als die reale ansehen, bleibt weitgehend unbeachtet. Der als real geltenden Welt Verschriebene und Utilitaristen jeglicher Spielart werden einwenden, Sebalds Welt könne keinen Bestand haben. Am Bestand der Menschenwelt aber ist dem Dichter ganz offenbar nur eingeschränkt gelegen, und die Frage, ob unsere reale Welt bestehen kann, steht ohnehin schon in den nahegelegenen Sternen des Jahres 2013.

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