Der im internationalen Maßstab der Gegenwart ausgesprochen geringe Grad der Sexualisierung des Sebaldschen Prosawerkes ist bereits aufgefallen und wurde angesprochen. Eine Folge ist die hohe Wirkung erotischer Elemente bereits in homöopathischer Dosis, wie am Motiv der Empfangsdamen hinlänglich klar wird.
Selysses trifft Kafkas Schankmädchen Frieda in W. als Engelwirtin: Mit unverhohlener Mißbilligung musterte sie mich, sei es wegen meiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen meiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir mir schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber. Und er trifft Frieda wieder im Viktoriahotel Lowestoft: Eine ganze Zeitlang habe ich in dem leeren Entree gestanden und bin durch die sogar mitten in der Saison – wenn von einer Saison in Lowestoft überhaupt die Rede sein kann – völlig verlassenen Räume gewandert, ehe ich auf eine verschreckte junge Frau stieß, die mir nach einigem zwecklosen Herumsuchen im Register der Rezeption, einen mächtigen, an einer hölzernen Birne hängenden Zimmerschlüssel reichte. Aber erst hinter und unter der Theke in der Schänke des Dorfes unterhalb vom Schloß kommt es zur sogenannten Erfüllung: Sie umfaßten einander, der kleine Körper brannte in K.s Händen, sie rollten in einer Besinnungslosigkeit, aus der sich K. fortwährend aber vergeblich zu retten suchte, schlugen dumpf an Klamms Tür und lagen dann in den kleinen Pfützen Biers und dem Unrat auf dem Boden.
Luciana Michelotti ist Wirtin und Ehefrau und steht damit zwischen zwei Frauenwelten. Der Ehemann schaut allerdings nur beiläufig herein und so kann Selysses sich Hoffnung machen, sie zu entführen und zur Seinen zu machen: Als ich, diese Bescheinigung in der Hand, mit Luciana wieder im Auto saß, war es mir, als seien wir von dem Brigadiere getraut worden und könnten nun miteinander hinfahren, wo wir wollten. Die mich mit einem Gefühl der Glückseligkeit erfüllende Vorstellung hielt allerdings nicht lange an.
Ehepaare sind selten in Sebalds Erzählwelt und durchweg wenig glückhaft. Selwyns Ehedomina lernen wir nicht näher kennen, stellen sie uns aber vor als eine Art Double von Mrs. FitzGerald, die in überlieferten Porträtdarstellungen gezeigt ist als eine Dame von mächtigem Format, mit starken, abfallenden Schultern und einer geradezu furchteinflößenden Büste und damit für viele Zeitgenossen eine verblüffende Ähnlichkeit aufwies mit dem Herzog von Wellington. Der Bund fürs Leben des Predigerpaares Elias, Austerlitz' Pflegeeltern in Wales, ist eher einer zum Tod, Mrs. Ashbury ist verwitwet, eine Voraussetzung für ihre Berufung zur Heiligen. Es bleibt Austerlitz’ paradiesisches Elternpaar in einem paradiesischen Prag vor dem tiefen deutschen Sündenfall.
Zum einen: Auch das Unglück der Heiligen ist ihr Geschlecht, ist die furchtbare Separation der Geschlechter. Und zum anderen: Liebesgeschichten sind mir, bis auf wenige, beinahe metaphysische Ausnahmen, grundsätzlich absurd vorgekommen. - Die drei großen beinahe metaphysischen Ausnahmen im Werk sind die Geschichten mit Adela Fitzpatrick, Marie de Verneuil und Lucy Landau. Vermutlich muß man auch Sig.ra Gherardi hinzurechnen, der Umstand, daß Stendhal sie sich, wie Selysses mutmaßt, nur ausgedacht hat, als er der Anstrengungen der realen, nie zur vollen Zufriedenheit verlaufenen Liebesabenteuer aus den verschiedensten Gründen überdrüssig war, hat wenig zu bedeuten und keinen mindernden Einfluß auf ihre literarische Realität. Wie ist es schließlich mit Florence Barnes, die vom Major Le Strange als Haushälterin engagiert wird unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnehme?
Schaut man sich um nach einer schlichteren Kennzeichnung der beinahe metaphysische Ausnahmen, so mag man auf das Geschwisterverhältnis verfallen. Thomas Bernhard hat dem Geschwisterverhältnis, den Schwestern eindringliche Bücher wie Beton oder Korrektur gewidmet. Im Kalkwerk heiß es ziemlich zu Anfang beiläufig und wohl auch oft überlesen, Konrads Frau sei in Wahrheit seine Halbschwester. Wenig später, bei der Schilderung der klaustrophobische Reaktion Konrads auf kleine Zimmer und der agoraphobische Reaktion der Frau auf große Zimmer wird diese, gerade noch seine Frau, wiederum plötzlich und übergangslos als seine Schwester bezeichnet. Das Kalkwerk ist eine beinahe schon metaphysische Torturgeschichte und damit der Gegenpol zu einer beinahe schon metaphysischen Liebesgeschichte. Bei Bernhard sind es leibliche Schwestern, bei Sebald für Austerlitz und Bereyter, auch für Stendhal und vielleicht für Le Strange Wahlschwestern. Ein Wahlschwesternlebensmenschverhältnis ist Bernhard im wirklichen Leben eingegangen, auch wenn sich die Bezeichnung auf der Verwandtschaftsskala angesichts von Hedwig Stavianiceks erheblich überlegenem Alter verschoben hat. Üblicherweise wurde sie die Tante genannt.
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