Dienstag, 24. Februar 2009

Unsere Zukunft

Kinder und Familie

This is Sebold, my partner.

Mit Raymond Chandler hat Sebald sich nicht in einem Aufsatz auseinandergesetzt, ob er ihn gelesen hat ist fraglich und ebenso, ob er ihn geschätzt hat, wenn er ihn denn kannte. Dabei hat der Selysses der Kriminalgeschichte Schwindel.Gefühle durchaus Bezüge zu Philip Marlowe, ein Merkmal aber vor allem verbindet die Werke der beiden Autoren: die Kinderlosigkeit. Kinder tauchen kaum auf und wenn doch, sind es zumeist kleine Monster. Chandler hat seine Abneigung wiederholt zu Protokoll gegeben.

Man wird, was Sebald anbelangt, widersprechen wollen und auf den kleinen Jacques Austerlitz in Prag und auf den kleinen Selysses in W. verweisen. Aber das sind keine Kinder der Erzählung, sondern Erwachsene, die sich in der Erzählung als die Kinder erinnern, die sie waren. Die einzigen aktuellen Kleinen, die uns sofort einfallen, sind die beiden Kafkaknaben in den Schwindel.Gefühlen, und die sind grauenhaft, mißlungene Abziehbilder Kafkas, und der Versuch, auf photographischem Wege Abziehbilder wiederum von ihnen zu gewinnen, mißlingt seinerseits auf groteske Weise. Mauro Michelotti, in der gleichen Erzählung All’estero, könnte Anwärter auf eine positive Verkörperung des Nachwuchses sein, aber seine Kindhaftigkeit ist umstritten. Selbst seine Mutter Luciana plädiert nur auf fast noch ein Kind und der Vater bestreitet auch das energisch: Ein Kind, rief der Padrone und drehte die Augen zum Himmel, als brauche er dessen Beistand in dieser Stunde der Prüfung, ein Kind, rief er von neuem, ein Kind ist er nicht, wohl aber ein gedankenloser Mensch. – Die Kinder sind längst herangewachsen.

Die Berufswelt erwies sich in der Betrachtung als so flach und so wenig einnehmend für die Menschen, daß sich der übliche Gegensatz von Beruf und Freizeit nicht aufbauen ließ, und noch weniger kommt es zum populären Gegensatz von Beruf und Familie. Man steigt nicht aus aus dem Beruf, um sich einer Familie zu widmen, sondern um sich der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen, um sich mit dem Aufhängen oder Abnehmen raschelnden Samenbehälter zu beschäftigen und darin wie eine in den Himmel auffahrende Heilige zu verschwinden, um eine Höhle auszuheben und dann tage- und nächtelang darin zu sitzen gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste, um ein Eremiten und ein Narr nicht in Christo zu werden, ein Detektiv, ein Mönch ohne Gott. - Die Menschenwelt ist in Auflösung und auf ihre Zerstörung und Auslöschung durch einen großen Brand im Jahre 2013 nicht angewiesen. Die Menschheit verzichtet auf Prokreation und läuft still aus. Es ist aufgefallen, daß Sebald sein Lexikon der deutschen Sprache für Neuerscheinungen seit 1933 gesperrt hat, folgenschwerer vielleicht noch ist die Sperrung für weitere Exemplare der Gattung Homo Sapiens. Das Projekt Moderne kann augenscheinlich auf die begonnene Weise nicht fortgeführt und abgeschlossen werden.

Warum aber fühlen wir uns so wohl in Sebalds Endzeitwelt? Wir haben nicht das Gefühl eines Endes, einer Absage an die Welt, sondern das Gefühl eines An- und Innehaltens, einer Atempause, einer Besinnung, eines Inderschwebehalten, der Möglichkeit einer Neuorientierung. Mit der Bereitstellung dieser Möglichkeit hat der Dichter seine Schuldigkeit getan. Nähere Ausarbeitungen zur Frage, worin die Neuorientierung bestehen könnte, gehören nicht zu seinem Aufgabenbereich.

Philip Marlowe wurde achtunddreißigjährig in Chandlers unveränderbare amerikanische Welt geboren und wird sie auch irgendwann achtunddreißigjährig auf einer Bahre wieder verlassen haben. Bei Sebald hat man das Gefühl, das Bild könne sich jederzeit drehen, alles könne neu anlaufen und den kleinen Prager Austerlitz oder den kleinen Selysses aus W. in eine Welt versetzen, die nicht die der Vergangenheit aber auch keine Verlängerung der gegenwärtig laufenden ist. Es müßte sich vermutlich um kaum weniger als ein Reich Gottes der einen oder anderen Art handeln. Warum aber sollen wir die Hoffnung aufgeben?

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