Samstag, 21. Februar 2009

CERN

Mechanisch-chemische und nukleare Materialveränderungen

Wenn du weißt, daß hier eine Hand ist, so geben wir dir alles übrige zu
Nach einem Gedankenaustausch mit Christian Wirth


Entgegen dem, was Rimbaud gedichtet hat - A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu: voyelles, Je dirai quelque jour vos naissances latentes -, sind die Laute der menschlichen Sprache frei von Bedeutung, die Vokale ebenso wie die Konsonanten. Das Spiel von Komplexitätssteigerung durch Komplexitätsreduktion, von enormen Kontaktgewinnen durch Kontaktunterbrechung hat in der Struktur der Sprache wohl seinen wichtigsten und für die Menschheit folgenreichsten Triumph erzielt, der unermeßlich weit hinausführt über das, was dem Hund zur Verfügung steht, wenn er, durchaus bedeutungsvoll, bellt oder knurrt. Aus dem zur Verfügung stehenden, den Artikulationsorganen zugänglichem Lautspektrum sind nur wenige Laute herausgeschnitten, fast immer weniger als fünfzig - die Apachen, so hört man, benötigen mehr - und mit phonologischer Potenz versehen. Jeder Kontakt zur Welt über Bedeutung ist den Phonemen untersagt und Voraussetzung dafür, daß sie, bedeutungsunterscheidend (K // B // S: kaum // Baum // Saum), im Wort die Erzeugung von Bedeutung tragen, das Wort wiederum die Bedeutungserzeugung im Satz, der Satz im Absatz, der Absatz im Kapitel, das Kapitel im Buch oder auf der Netzseite.


Dichtung setzt hier ein und fährt einerseits in diesen Bahnen fort, versucht andererseits aber, alles Vorausliegende nur als Material zu benutzen, ähnlich wie die Worte die Phoneme als Material benutzen. Sie ist aber nicht in der gleichen Position, denn das vorgefundene Material kann seine Bedeutungen nicht abstreifen. Die konkrete Poesie, sofern sie das im Sinn hat, wandert bestenfalls hinüber in den Herrschaftsbereich der bildenden Kunst, die sich ihrerseits mit der Freisetzung von Farbe und Form von bedeutungstragenden Bildelementen vielleicht nicht den größten Gefallen getan hat. Bei Sebald findet man spezielle Verfahren zur Zerstörung und Umformung sowie zum Wiederaufbau des Vorgefundenen, und dem soll hier nachgegangen werden. - War die Dichtung erfolgreich in ihrem Bestreben, sich auf einer eigenen Ebene oberhalb üblicher Sprachverläufe einzurichten, dann kann man dort auch mit Rimbaud nicht länger streiten.


Sebalds Dichtung zeichnet sich dadurch aus, daß sie bloßes Fortfahren in normalen Sprachbahnen mimt, sich als einfache Reiseerzählung oder dokumentarischer Lebensbericht tarnt – nicht wenige sind in peinlicher Weise auf diese Tarnung hereingefallen –gleichzeitig aber auf besonders radikale Weise alles Vorgefundene zu bloßem Material für etwas ganz anderes umformt und so die weitere, immer nur geahnte Komplexität der Kunst erreicht, die naturgemäß mit den ihr gegenüber unterkomplexen Mitteln normaler Sprachverläufe nicht wieder eingefangen werden kann. Hier soll denn auch nur versucht werden, ein wenig in ihrem Nachhall hineinzuhören.


In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als er noch kein rechter Dichter war, hat Sebald sich bereits als Reise- und Wanderfeuilletonist bewährt: Wer die graue Nordsee überquert hat, dem öffnet sich, wenn er am Morgen in Harwich wieder Land gewinnt, die weite ostenglische Provinz, von der aus man einst leichter nach Amsterdam als nach London gelangte und die auch, nachdem sie von der Bahn erschlossen war, in ihrem exzentrischen Dasein verharrte. Von Butley sind es kaum vier Kilometer nach Orford &c. – Es könnte sich um den Ausgangspunkt der Ringe des Saturn handeln, auch ein Bericht von einer Wanderung in Ostengland. Die englische Wanderung ist hier aber völlig überwuchert von mentalen Ausflügen, die geographisch bis in die Ukraine, an den Kongo und gar bis China tragen und auch in seltsame Landstriche wie das Land Tlön.

Schon bei der Lektüre der Schwindel.Gefühle war manchem beginnenden Leser vielleicht nicht sogleich deutlich geworden, warum die Erzählung vom Aufbruch in dem Süden und der Rückkehr zunächst ins Allgäu und dann nach England zerschlagen war von auf den ersten Blick disparaten Berichten über bestimmte Lebensabschnitte Stendhals und Kafkas. Vielleicht erst, nachdem man das Buch geschlossen hatte, begannen die Teile sich auf seltsame Weise zu verweben, die Zahl Dreizehn begleitet uns von Anfang bis zum Ende, schon Stendhal begegnet dem Jäger Gracchus &c. Man könnte sagen, daß die zugrundeliegenden Reiseerzählungen mit grobmechanischen Mittel zerschlagen, um dann mit feinmechanischen und chemischen Mitteln wieder vernäht oder resynthetisiert zu werden.


Dabei haben einige der chemischen Mittel allerdings eher alchemistisch-zahlenmystischen Charakter, das Spiel mit der Zahl Dreizehn wurde schon angesprochen. Christian Wirth glaubt einer großen zahlenmystischen Textverschwörung auf der Spur zu sein, die er in Ansätzen auch schon offengelegt hat.Von ähnlicher Art und von ähnlicher Wirkung sind die Wiedergänger. Selysses trifft in den Fußgängerzonen moderner Städte und auf Bahnreisen Dante, König Ludwig und Königinnen vergangener Tage. Dabei wird immer betont, sie seien es gewiß und ohne Zweifel. Aber wenn das gewiß ist, muß jede Gewißheit ungewiß werden.

Und dann die Vorliebe für Koinzidenzen, und seien sie auch nur ungefährer Art und wenig paßgenau, um nicht zu sagen: an den Haaren herbeigezogen. In einem Interview hat Sebald geäußert, das Leben sei ohne Sinn und jeder wisse das, umso mehr aber komme es darauf an, nichts außer Acht zu lassen, was, wie eine Koinzidenz, wenigstens für den Augenblick als Sinn gelten oder nach Sinn aussehen könne. Die Annahme, das Leben sei ohne Sinn, schließt in keiner Weise aus, daß der Mensch unaufhebbar von Sinnhorizonten umgeben ist, auch dann, wenn Sinnlosigkeit das Thema ist, Horizonte, die er nicht erreichen oder überschreiten kann (Luhmann); daß es keinen Ausweg aus den Sprachspielen gibt (Wittgenstein). Sebald selbst hat mehrfach eindrücklich die Qualen der schreibend in die Sinnproduktionsstätten Eingeschlossenen dargestellt, aber leicht mag es uns immer wieder scheinen, als sei der Blick vom Vorübergehn des Sinns so müd geworden, daß er nichts mehr hält, als ob es tausend Sinne gäbe und hinter tausendfachem Sinn keine Welt. Das mag den Wunsch erwecken, alles aufgeben zu können außer dem Schauen - und verharrte der Blick auch nur an den Gitterstäben des Käfigs.

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß sich aus diesem kabbalistischen Terrain ständig die Hauptmelodie begleitende und umspielende oder ihr zuwider laufende kleine Sinnmelodien lösen mit teils konstruktivem und teils destruktivem Effekt.


Führend unter den ernsthafteren chemische Verfahren ist die durchgehende Unterfütterung der Texte mit Zitaten. Wir überspringen die korrekt gekennzeichneten und mit einem Namen versehenen wie der Hinweis auf Borges im Zusammenhang mit dem Land Tlön. Oft sind auch die nicht gekennzeichneten Zitate eindeutig für den, der das Glück hat, die Referenz zu finden. Man liest etwa vom Aufbruch im Prager Bahnhof, vom Flattern der weißen Taschentücher und von den seltsamen Eindruck, daß der Zug, nachdem er unendlich langsam angerückt war, nicht eigentlich weggefahren, sondern bloß, in einer Art Täuschungsmanöver, ein Stück aus der überglasten Halle herausgerollt und dort, noch nicht einmal in halber Ferne, versunken sei, ganz und gar sebaldtypisch denkt man, um dann im Tagebuch Kafkas zu finden: Überraschend fieng der Zug langsam zu fahren an, Fr. ließ das Taschentuch flattern. Später erinnerte ich mich daran, daß ich den Eindruck gehabt hatte, der Zug fahre nicht eigentlich weg, sondern fahre nur die kurze Bahnhofstrecke um uns ein Schauspiel zu geben und versinke dann. Andere Zitate sind verdeckt und dem stilistischen Gespür des Lesers überlassen, so wenn er zu Beginn der Erzählung Ritorno in Patria unsicher wird, ob er nun mit Sebald oder doch eher mit Bernhard unterwegs ist, wieder andere verdanken sich möglicherweise schon einem zur Paranoia gesteigerten Generalverdacht, so wenn man gleich am Anfang von Abschied von den Eltern liest, wie Peter Weiss nach Belgien zu seinem toten Vater fährt und sich fragt, ob Selysses nicht gleich zu Anfang nach Belgien fährt, um Laertes-Austerlitz zu treffen. Sebald allein könnte die Germanistik mit der Aufgabe der Aufdeckung, Verifizierung und Falsifizierung seiner Zitathintergründe auf Dauer im Brot halten. - Der offenbar angestrebte destruktive Effekt ist erreicht, der Leser permanent verunsichert, die Erde schwankt , und doch bleibt man die ganze Zeit in der sicheren Obhut des Dichters.

Ein weiteres chemisches Verfahren zur Materialauflösung sind Sebalds Lügen. Kann man überhaupt lügen in einem fiktionalen Werk? Aber dann täuscht er ja immer wieder vor, es sei keins; - um der knifflichen Situation zu entkommen, nimmt man gern Zuflucht zum Begriff der Halluzination. Die berühmteste ist wohl das Buch, welches den Titel Das böhmische Meer trug und verfaßt war von einer dem Selysses unbekannten Autorin namens Mila Stern. Und Selysses gibt zu: Seither habe ich immer wieder und bislang vergebens versucht, wenigstens das Buch Das böhmische Meer ausfindig zu machen; es ist aber, obschon zweifellos für mich von der größten Wichtigkeit, in keiner Bibliographie, in keinem Katalog, es ist nirgends verzeichnet - eine Erfahrung, die in seiner Folge ein ganzes Heer von Lesern dieser Zeilen machen mußte. Liest man, gewitzt durch diese bittere Erfahrung dann z.B. in den Moments musicaux, der Erzähler habe, wenn er sich nicht täusche, in einer der Studien Sigmunds Freuds gelesen, das innerste Geheimnis der Musik sei eine Geste zur Abwehr der Paranoia, so mag man, in Unkenntnis der Referenzstelle, argwöhnen, der Einschub wenn er sich nicht täusche könnte ein Hinweis sein, das Zitat sei der Einfachheit halber erdacht und erlogen, um am Ende, wenn es sich dann doch auffindet, vielleicht doppelt getäuscht zu sein. Das Mißtrauen wird umso größer, wenn man bemerkt oder erfährt , daß auch die Bilder im Text, zunächst gutgläubig als Beleg des Realen akzeptiert, nicht selten irreführen und lügen. – Ganz offenbar ist es gelogen, daß eine Lüge immer eine Lüge ist. Eine Lüge ist keine Lüge ist keine Lüge, was immer auch Kant sich dazu erdacht hat in seiner Zeit.



Damit verlassen wir die Chemie und kommen zur Teilchenphysik im heißen Kern der Sebaldtexte, die immer wieder auf Satzgruppen von gleißender Schönheit und rätselhaftem Sinn zusteuern. Drei Beispiele:

Eisfeuer
Sand Sebolt entfacht im Herd eines um Holz geizenden Wagners ein Feuer aus Eiszapfen. Immer ist diese Geschichte von der Verbrennung der gefrorenen Lebenssubstanz für mich von besonderer Bedeutung gewesen, und ich habe mich oft gefragt, ob nicht die inwendige Vereisung und Verödung am Ende die Voraussetzung ist dafür, daß man, vermittels einer Art schwindelhafter Schaustellerei die Welt glauben machen kann, das arme Herz stünde noch in Flammen
(RS 107).

Schiff vor Porto
Als meine Augen sich an das sanfte Zwielicht gewöhnten, konnte ich das Schiff sehen, das aus der Mitte des Sonnenfeuers hervorgekommen war und jetzt auf den Hafen von Porto zuhielt, so langsam, das man meinte, es bewege sich nicht. Es war eine weiße Yacht mit fünf Masten, die nicht die geringste Spur auf dem reglosen Wasser hinterließ. Knapp war sie an der Grenze zum Stillstand und rückte doch so unaufhaltsam vor wie der große Zeiger der Uhr. Das Schiff fuhr, sozusagen, entlang der Linie, die das, was wir wahrnehmen können, trennt von dem, was noch keiner gesehen hat. Vielleicht eine Stunde lag das Schiff hell leuchtend in der Finsternis, als warte sein Kapitän auf die Erlaubnis, einlaufen zu dürfen in den hinter den Calanches verborgenen Hafen. Dann, als die Sterne schon über den Bergen hervortraten, drehte es ab und fuhr so langsam, wie es gekommen war, wieder davon
(CS 49f).

Hühner im Feld
Einmal fielen mir ein paar Hühner auf mitten in einem grünen Feld, die sich, obschon es doch noch gar nicht lange zu regnen aufgehört hatte, für ein die winzigen Tiere, wie mir schien, endloses Stück von dem Haus entfernt hatten, zu dem sie gehörten. Aus einem mir nach wie vor nicht ganz erfindlichen Grund ist mir der Anblick dieser weit ins Feld sich hinauswagenden Hühnerschar damals sehr ans Herz gegangen. Überhaupt weiß ich nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das mich manchmal so rührt.
(SG 192)

Offen dar- und hingestellte Schönheit gilt im Rahmen modernerer Kunst als eher nicht opportun, schon fast als Tabu, um das sich Sebald ganz offenkundig nicht kümmert, ein erholsamer Tabubruch einmal von der anderen Seite her und zu dieser Seite hin. Darum aber geht es nicht, sondern um die Verbindung des jeweiligen Schönheitsblitzes mit überbordender, nicht durchsichtiger Bedeutung. Es ist, als habe man in einem literarischen CERN Schönheits- und Bedeutungspartikel gegeneinander gehetzt, so daß sie zerbersten um sich, mit neugewonnenen Eigenschaften, neu zu ordnen. - Die Einordnung als nukleares Geschehen mißt den Schönheitsblitzen eine hohe Bedeutung im Werk bei. Der große Frieden, der über Sebalds Prosa liegt hat hier eine seiner wichtigsten Quellen.

Sebald bekennt sich, als Selysses, zu zwei Lehrergestalten , Bereyter und Austerlitz, die beide, bei Austerlitz offen ausgesprochen, Ähnlichkeiten mit Wittgenstein haben. Wen will es wundern, wenn Sebald Wittgenstein nicht nur als Asketen und Genußverächter – ihm sei eigentlich gleichgültig, was er esse, Hauptsache, es sei immer das Gleiche – sondern auch als Philosophen des unsicheren Bodens und der Schwindelgefühle geliebt hat, der, wenn er Über Gewißheit nachdenkt, auch in sechshundertsechsundsiebzig Anläufen keinen letztendlichen Beweis, das heißt keinen Beweis außerhalb eines Sprachspiels, dafür zu finden vermag, daß S.G.E. Moore, wenn er seine eigene Hand sieht und sagt, er sehe seine Hand, auch gewiß seine Hand sieht. Alle unsere Gewißheiten und Ungewißheiten sind in der Sprache, der Hund, der, durchaus bedeutungsschwer, knurrt und bellt, kennt beides nicht. Von der Gewißheiten suggerierenden Sprachspielen der Alltagssprache begeben wir uns in die Schwindelgefühle und Ungewißheiten suggerierenden Sprache der Literatur, um zu neuen und anderen ungewissen Gewißheiten zu gelangen. Denn, und das schließlich ist das kaum zu erklärende Wunder, in Sebalds Erzählwelt fühlen wir uns immer so sicher aufgehoben wie Dante an der Hand von Vergil wenn nicht gar wie in Abrahams sprichwörtlichem Schoß.

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