Michael Braun hat am 21.10.08 im Saarländischen Rundfunk auf einen, wie er sich ausdrückt, brisanten Aufsatz von Thomas Medicus in der Zeitschrift Mittelweg 36 hingewiesen, in dem eine psychoanalytische Fixierung des Schriftstellers W.G. Sebald bloßgelegt worden sei. Die Wehrmachtsvergangenheit des Vaters sei beim Sohn mit dem germanischen Namen Winfried in Selbsthaß umgeschlagen, dieser wiederum habe dann zu einer heillosen Geschichtsphilosophie geführt. Wenn nicht alle Zeichen trügen, so Braun, könnte sich an diesen Thesen erstmals eine ernsthafte Debatte über den ästhetischen Rang des bislang unantastbaren Autors W.G. Sebald entzünden. - Was damit im einzelnen gemeint ist, bleibt unklar, aber es klingt durchaus drohend. Jemand, bei dem es psychoanalytisch etwas zu entdecken gibt, ist wohl in jedem Fall ein wenig hinterfür und daher notwendig auch herabzustufen in seinem ästhetischen Rang, dessen - im Falle Sebalds immer wieder gern angetastete - Unantastbarkeit Braun, so kann man mutmaßen, seit längerem schon ein Dorn im Auge ist.
Erschienen ist der Aufsatz nicht in einer Literaturzeitschrift, sondern in einer Zeitschrift für Sozialforschung. Nur das berechtigt den Autor, sich zunächst ganz auf den Essay Luftkrieg und Literatur zu konzentrieren. Vorsorglich ist anzumerken, daß es sich dabei um die einzige größere Arbeit Sebalds handelt, bei der abzuraten ist, sie mehr als einmal zu lesen, und auch für den, der sie gar nicht liest, ist es sicher nicht der größte Verlust, den er verschmerzen muß.
Sebalds zentraler Vorwurf der zu geringen Verarbeitung des Luftkriegs in der deutschen Literatur sei absurd, heißt es, sein Deutschlandbild, fixiert auf die Jahre 1944 bis 1950, insgesamt bizarr. Auch in dieser Aufsatzsammlung wurde bereits ausgeführt, daß Sebalds Äußerungen Deutschland betreffend kaum tragfähiger sind als die Thomas Bernhards zu Österreich. Die Wege der Betrachtung trennen sich aber, wenn Medicus sich daran begibt, das gesamte Prosawerk des Dichters am Haken des Luftkrieg aufzuhängen. Da fällt vieles herunter auf den Boden, und was hängen bleibt, hängt schief und hat eine traurige Gestalt.
Der Haken, den Medicus einigermaßen pompös einschlägt, scheint zunächst außerordentlich solide zu sein: 2009 jährt sich die Gründung der Bundesrepublik zum sechzigsten, die deutsche Einheit zum zwanzigsten Mal, und Sebalds Aufsatz wird zehn Jahre alt, wird uns vor Augen gehalten. Die Berechtigung, das gesamte literarische Werk gleich mit an diesen wuchtigen Haken zu hängen, wird der anglophonen Kritik entlehnt, die in Sebald den prime speaker of the Holocaust gesehen habe und noch sehe. Gegen diese verengende Sicht will Medicus, völlig zu recht, angehen. Die anglophone Kritik ist allerdings von vornherein nur selektiv erfaßt. Zum einen hatte sie Sebald schon lange vor dem Erscheinen des Austerlitzromans entdeckt, als die Ernennung zum führenden Holocaustsprecher noch fern lag, und zum anderen haben verschiedene englischsprachige Autoren in Austerlitz gerade keinen neuen Gipfelpunkt des Werkes gesehen, sondern eher einen gewissen, allerdings nur für die Liebhaber des Werkes wahrnehmbaren Absturz.
Wenn es um Austerlitz geht, könnte fast Sehnsucht nach dem anderen Kritiker aufkommen, der immerhin bemerkt hatte, an die zweihundert Seiten seien bereits nutzlos vertan worden, bevor der Autor ZUR SACHE kommt. Medicus bleibt gleich bei der SACHE, kein Wort über die Dinge, die uns hier interessiert haben wie die Tauben, die Lehrer, die Uhren oder auch die Motten. Auch Sebalds poetologische Selbstspiegelungen in anderen Künstlergestalten werden mißachtet, so etwa wenn er bei Pisanello rühmt, daß allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird (SG 84). Jedes einzelne Blatt also, und doch reicht Medicus der gesamte, wenn auch inzwischen arg reduzierte Baumbestand der Insel Korsika nicht hin um zu glauben, es ginge dabei um etwas anderes als wieder einmal nur um den Luftkrieg und seine Folgen.
Vom Elementargedicht Nach der Natur wird nur der dritte Teil erwähnt, der Altar der Pfarrkirche zu Lindenhardt aus dem zweiten und der Naturforscher Steller im Eismeer aus dem zweiten Teil interessieren nicht. Die Ausgewanderten huschen einmal ganz kurz am Horizont vorüber, und an den Ringen des Saturn wird hervorgehoben, sie würden explizit auf das Thema des Bombenkriegs eingehen. Sie gehen darauf ein und auf vieles andere mehr, aber wenn man gezwungen wäre, ein Generalthema zu nennen, so würde man notgedrungen sagen, das Buch handele vom Seidenwurm. Völlig unerwähnt bleiben, und das ist eigenartig, die Schwindel.Gefühle. Das ist ein Buch über den Jäger Gracchus, oder auch, so Sebald selbst, über die Liebe oder aber ein Kriminalroman, wie Selysses der Wirtin Luciana Michelotti erläutert, in jedem Fall also unergiebig für Holocaust und Bombenflüge. Andererseits aber ist in der Schilderung der Inneneinrichtung der elterlichen Wohnung im Obergeschoß der Engelwirtschaft, das „Familiengeheimnis“, das individuelle Trauma so präsent, daß es kein Geheimnis mehr ist und auch Zweifel aufkommen, ob es denn noch als ein Trauma behandelt werden muß. In jedem Fall hat Sebald sein Trauma klar vor Augen und nicht unerkannt im Rücken, psychoanalytische Eingriffe sind nicht erforderlich.
In Sebalds Prosa sei das individuelle Trauma zu einer universellem Leid geschuldeten Melancholie geworden. Das ist richtig, aber auch hier dürfen die poetologischen Hinweise nicht übersehen werden: Zwar gelingt es Thomas Browne, unter anderem wegen dieser enormen Belastung nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation (RS 30). Nur wenn die Sätze schwer und schwermütig gemacht worden sind, ist es eine lohnende Kunst, sie zum Schweben zu bringen. Auch universelles Leid und Melancholie sind nicht die dumpfe Faust im Nacken des Dichters. Beim Urbild deutscher Melancholie, (RS 19) der von Dürer kupfergestochenen, langt Sebald erst an, nachdem er über mehr als eine Seite von der lebendig wuchernden Papierlandschaft im Arbeitszimmer der Janine Rosalynd Dakyns erzählt hat in einer Prosa, die von einem Lächeln durchleuchtet ist wie nur je die japanische Kirschblüte vom Sonnenlicht.
Wer nicht das Lächeln in der Syntax sieht, sieht nur wenig, und kann dem Autor unter anderem vormodernen Aberglauben unterstellen. Hier wird Spielmaterial mit lastenden psychischen Realitäten verwechselt. Die bereits angebotenen Generalbestimmungen der Schwindel.Gefühle: Jäger Gracchus, Liebe, Kriminalroman - ließen sich noch um eine weitere ergänzen: es ist eine Alchimie der Zahl Dreizehn und zum Schluß wird vom Nostradamus unserer Tage der Weltuntergang auf das Jahr 2013 festgesetzt. Es ist nicht bekannt, daß Sebald praktische, lebensnahe Vorkehrungen für das von ihm selbst ausgerufene Katastrophenjahr getroffen hätte.
Sebald habe bei seinem stets unhistorischen Projekt mit einem unscharfen Begriff der Katastrophe hantiert und seine Theorie der Naturgeschichte der Zerstörung theoretisch wie konzeptionell nie ausformuliert, ist ein weiterer Vorwurf, und man darf dankbar sein, wenn er zutrifft. Künstlerische Prosa wird nicht aus Begriffen montiert, und nur angesichts der einmaligen künstlerischen Robustheit Tolstois konnte Krieg und Frieden die im Roman über viele Seiten ergiebig angebotenen geschichtstheoretischen und konzeptionellen Ausformulierungen ohne nachhaltigen Schaden überstehen.
Bei Sebald gebe es, anders als bei Benjamin, kein Umschlagen von Unheil in Heil. Immerhin ist im Austerlitzbuch der Hölle Theresienstadt das Paradies Andromeda Lodge entgegengehalten, um nur eins zu nennen. Keinem Leser dürfte aber das Zusammenspiel von unheilvollen Inhalten und der heilende Kraft der Satzkunst entgehen, sonst hat er eigentlich gar nichts verstanden. Als Kinder haben wir die Märchen der Brüder Grimm gehört mit ihren Grausamkeiten, vorgelesen von der geliebten Stimme, um dann beseligt in einen tiefen Nachtschlaf zu fallen ungeachtet auch der letzten verborgenen Drohung, daß wir nur leben, sofern wir nicht gestorben sind. Bei Medicus wird das zur Sehnsucht des Kriegskindes nach der ursprünglichen Zerstörtheit. Sebald hat aber, alles in allem, keine Kinderbücher geschrieben, seine Prosa erleichtert den Tagesablauf, wie Hölderlin ihn für die Älteren vorgesehen hatte: In jüngeren Tagen war ich des Morgens froh, des Abends weint ich; jetzt, da ich älter bin, beginn ich zweifelnd meinen Tag und heilig und heiter ist mir sein Ende.
Vom Fleischerhaken des Luftkriegs genommen, richtet sich das Werk sogleich auf und nimmt seine lebendige Fülle wieder an. Und der Fleischerhaken? Der Luftkrieg war zweifellos ein Sebaldsches Erregungszentrum. Anders als Thomas Bernhard hat Sebald das Wüten nicht zum Basso Continuo seiner Prosa gemacht. Auch über Bombenkrieg und Holocaust kann er in seinem Prosawerk nur leise sprechen. Luftkrieg und Literatur ist das Ergebnis einer Externalisierung des Zorns, einer Verbannung. Der Dichter wütet vor den Toren seiner Stadt. Wir müssen ihm nicht unter allen Umständen dabei zuhören. Als Verfasser allein dieses Aufsatzes würde Sebald sicher nicht zu denen gehören, die leben, wenngleich sie gestorben sind.
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