Samstag, 16. August 2008

Bedürfnislosigkeit und Luxus

Des objets de toilette, dit Mercier
Luxe inutile, dit Camier.
Et des provisions de bouche, dit Mercier.
Juste bonnes à jeter, dit Camier

Logis in einem Landhaus ist nicht in eine Reihe mit Sebalds professoralen Essaybänden Unheimliche Heimat und Unglück und Beschreibung des Unglücks zu stellen, sondern den Prosawerken zuzurechnen. Natürlich ist de Grenzverlauf nicht so klar geregelt wie der zwischen modernen Staaten, im Landhaus wohnen aber ausschließlich Dichter und Maler, denen Sebald sich aus dem einen oder anderen Grund verwandt gefühlt hat, und der Gestus des Vortrags entspricht weitgehend dem der Vignetten Conrads, Chateaubriands und anderer in den Ringen des Saturns. Die Urszene des in Sebalds Werk an den verschiedensten Stellen auftauchenden, insgesamt für die Farbe der Prosa nicht unmaßgeblichen Motivs der Bedürfnislosigkeit finden wir im Aufsatz über Gottfried Keller, und sie ist dessen Werk entnommen: Durch den Tod des Vaters früh mit dem Mangel vertraut, wird die winzige, im Grunde bloß noch aus Sparsamkeit bestehende Hauswirtschaft der Mutter Keller in der Rückschau zum Sinnbild einer so gut wie restlos reduzierten Existenz. Am Abend nach meiner Abreise hatte meine Mutter sogleich die Wirtschaft geändert und beinahe vollständig in die Kunst verwandelt, von nichts zu leben. Sie erfand ein eigentümliches Gericht, welches sie jahraus, jahrein, einen Tag wie den anderen um die Mittagszeit kochte, auf einem Feuerchen, welches gleichermaßen von nichts brannte (LL 101).

Das bedürfnislose Feuerchen findet sich wieder, sozusagen brennend nach Wales getragen und in einen sarkastischen Kontext gestellt, im Austerlitzbuch: Nur wenn mehrere Tage hintereinander die Temperatur auf dem Thermometer am Fensterrahmen zur Mittagszeit unter fünfzig Grad Fahrenheit sank, durfte die Haushälterin im Kamin ein winziges Feuerchen anschüren, das von fast gar nichts brannte (AUS 131). Vom Onkel Evelyn, der schwer von der Bechterewschen Krankheit gezeichnet ist, heißt es erbarmungslos, er sei so krumm geworden aus reinem Geiz, den er vor sich selbst damit rechtfertigte, daß er allwöchentlich das von ihm nicht ausgegebene Geld an die Kongomission überweisen ließ zur Errettung der dort im Unglauben schmachtenden schwarzen Seelen (AUS 130). Jedem halbwegs eingeführten Sebaldleser steigt sofort das Kongokapitel aus dem Saturnbuch in den Sinn mit der grauenvollen Evidenz, daß es nicht um die schmachtenden Seelen, sondern nur um die gemarterten Leiber der Schwarzen im Herzen der Finsternis gehen kann.

Die Mutter bei Keller ist bedürfnislos aus Armut, notgedrungen, der Onkel Evelyn aus Krankheit und Verschrobenheit, der eigentliche Sebaldsche Held ist bedürfnislos aus geistiger Notwendigkeit. Im Austerlitzbuch repräsentiert der Titelheld selbst diesen Typus, über eine Reihe von Schaltungen ist er mit der asketischen Gestalt Ludwig Wittgensteins verbunden. Das auffälligste gemeinsame Merkmal ist der für beide unverzichtbare Rucksack, Sinnbild des omnia mea mecum. Der Rucksack ist abgebildet auf Seite 63, bereits das nächste Bild zeigt die Kuppel des Great Eastern Hotels, einer Luxusunterkunft der Jahrhundertwende, jetzt größtenteils stillgelegt. Der Diningroom umfasste dreihundert Gäste, es gab Rauch- und Billardsalons, Zimmerfluchten und Stiegenhäuser, ein kühles Labyrinth zu Lagerung von Rheinwein, Bordeaux und Champagner, allein der Fischkeller, wo Barsche, Zander, Schollen, Seezungen und Aale zuhauf auf den aus schwarzen Schiefer geschnittenen, unablässig von frischem Wasser überflossenen Tischflächen lagen, war ein kleines Totenreich für sich.

Wittgensteineske Gestalten bestimmen den Ton in drei der vier großen Bücher Sebalds, aber auch Proust und seine Guermantes, Trümmerbrocken der Belle Epoque, geistern ständig durch das Blickfeld. In den Schwindel.Gefühlen ist diese Texteinfärbung nicht in auffälliger Weise vorhanden, immerhin aber irrlichtert das Jahr 1913, das allerletzte der Belle Epoque durch das gesamte Buch. 1913 war für Sebald offenbar auch der letzte Augenblick, zu dem sich die Menschheit noch Illusionen über sich selbst machen konnte. Professionelle Leser haben herausgefunden, daß der Dichter sein Wörterbuch der deutschen Sprache 1933 geschlossen und Neueingänge ins Vokabular nicht mehr berücksichtigt hat - oder war das schon zwanzig Jahre zuvor geschehen?

Heruntergekommene Luxushotels und zerfallende Herrenhäuser stehen in der vordersten Front Sebaldscher Erzählkunst. In der Erzählung Ambros Adelwarth wird bei einem Besuch des alten mondänen Seebads Deauville in der Normandie, Terre de Proust, auf fünfzehn Seiten (AW 171 bis 186), überwiegend in einer Traumsequenz, die Proustsche Morbidität ohne Abstriche eingefangen. Es schien, als habe sich hier in Deauville im Sommer 1913 die gesamte Welt versammelt. Ich sah die Comtesse de Montgomery, die Comtesse Fitz James, die Baronne d’Erlanger und die Marquise de Massa, die Rothschild, die Deutsch de la Meurthe, die Peugeot und die Orlovs, Künstler und Künstlerinnen und die Demimondäne, griechische Reeder, mexikanische Petroleummagnaten und Baumwollpflanzer aus Louisiana. Ein wunderbar rosarot durch die gedämpfte Atmosphäre leuchtendes Hummertier, das langsam manchmal eines seiner Glieder rührte, lag zwischen ihnen auf einer silbernen Platte. Von der wie von einem leichten Seegang bewegten Menge der dinierenden Gäste waren nur die glitzernden Ohrringe und Halskettender Damen und die weißen Hemdbrüste der Herren zu sehen. Eine österreichische Gräfin, femme au passé obscur, von unvergleichlicher Unergründlichkeit, hielt Hof in einer der etwas abgelegenen Ecken. Eine ungeheuer feingliedrige, beinahe transparente Person in grau- und braunseidenen Moirékleidern. Niemand kannte ihren wirklichen Namen, niemand vermochte ihr Alter zu schätzen oder wußte, ob sie ledig, verheiratet oder verwitwet war. Zum letzten Mal erblickte ich sie, als ich, aus dem Deauviller Traum wieder erwacht, ans Fenster meines Hotelzimmers getreten war. Auf das geschmackloseste zusammengerichtet und auf das entsetzlichste geschminkt kam sie daher, mit einem hoppelnden weißen Angorakaninchen an der Leine. Außerdem hatte sie einen giftgrün livrierten Clubman dabei, der immer, wenn das Kaninchen nicht mehr weiterwollte, sich hinunterbeugte zu ihm, um es ein wenig zu füttern von dem riesigen Blumenkohl, den er in der linken Armbeuge hielt.

Die beiden Erzählbände von den Ausgewanderten und von den Ringen des Saturn lassen sich lesen, neben zahllosen anderen Lesarten, die sie ermöglichen, als eine durchgehende Wellenbewegung aus Bedürfnislosigkeit und Luxus. Paul Bereyter ist ein Permanentasket aus der Wittgensteinschule. Dr. Henry Selwyn, den Selysses und seine Begleiterin Clara als praktizierenden Asketen antreffen, gibt an, in den zwanziger und dreißiger Jahren in großem Stil gelebt zu haben (AW 34). Ambros Adelwarth nimmt als Begleiter des Cosmos Salomon an dessen mondänen Ausschweifungen teil und sucht dann selbst seine psychiatrischen Folterknechte auf zum Zweck der planvollen Selbstzerstörung. Max Aurach kennt nur die künstlerische Arbeit, ohne sie irgend zu lieben oder zu achten, allenfalls liebt er den durch das Ausradieren erzeugten Staub. Als sich der nicht gesuchte und unerwünschte Erfolg einstellt, mietet er eine Suite hinter der an ein phantastisches Befestigungswerk erinnernden Fassade des Midland Hotels (AW 348), von dem ganze Teile schon abgesperrt sind, so daß es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis der Betrieb eingestellt wird, nur um seinem Zustand, den er als schandbar empfand, schon möglichst bald zu entkommen auf die eine oder andere Weise.

In den Ringen des Saturn treffen wir schon bald (RS 14) Michael Parkinson, den mehr als alles andere eine Bedürfnislosigkeit auszeichnete, von der manche behaupteten, daß sie ans Exzentrische grenzte. Jahraus, jahrein trug er abwechslungsweise eine dunkelblaue und eine rostfarbene Jacke, und wenn die Ärmel abgestoßen oder die Ellbogen durchgewetzt waren, hat er selber zu Nadel und Faden gegriffen. Im Kapitel II lernen wir dann Morton Peto und seinen im anglo-italienischen Stil gehaltenen Prinzenpalast kennen. Es gab Korridore, die in einer Farngrotte mit immerzu plätschernden Brunnen zusammentrafen, überlaubte Gartengänge, die sich kreuzten unter der Kuppel einer phantastischen Moschee. Versenkbare Fenster öffneten den Raum nach draußen, während inwendig auf den Spiegelwänden die Landschaft erschien. Palmenhäuser und Orangerien, der einem grünsamtenen Tuch gleichende Rasen, die Bespannung der Billardtische, die Bouquets in den Morgen- und Ruhezimmern und die Majolikavasen auf der Terrasse, die Paradiesvögel und Goldfasane auf den Seidentapeten, die Stieglitze in den Volieren und die Nachtigallen im Garten, die Teppicharabesken und die von Buchsbaumhecken eingefassten Blumenparterres. – Und so fort, auf und ab, das ganze Buch hindurch. Die schönste und phantastischste Verbindung von Bedürfnislosigkeit und Luxus stellt im Kapitel III der über ein Vermögen von mehreren Millionen Pfund verfügende Major George Wyndham Le Strange dar. Er nimmt an der Befreiung von Bergen Belsen teil und zieht sich anschließend in noch recht jungen Jahren auf seine Landgüter zurück, um eine eigenwillige Logis in einem Landhaus zu beziehen. Als Haushälterin verschreibt er sich eine einfache junge Frau namens Florence Barnes unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnimmt (RS 80). Le Strange sei in seinem späteren Alter, weil er seine Garderobe völlig abgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen wollte, in Kleidern aus früheren Zeiten herumgegangen, die er bei Bedarf aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervorholte. Es gab Leute, die behaupteten, ihn gelegentlich gesehen zu haben in einem kanarienfarbenen Gehrock oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Auch hieß es, Le Strange, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmergehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. Einmal im Sommerhabe Le Strange in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er tage und nächtelang gesessen sei gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste.

Wittgenstein und Proust könnten sich vielleicht einigen auf Sebalds Feldern, aber Józef Korzeniowski, später Joseph Conrad genannt, läßt das nicht zu. Sebald ist der Vorwurf gemacht worden, im Austerlitzbuch die Belgier nicht mit dem nötigen Respekt behandelt zu haben. Die Schuld, in Wahrheit natürlich das Verdienst liegt aber bei Joseph Conrad, der mit The Heart of Darkness das konzentrierteste und eindringlichste zeitgenössische Buch geschrieben hat über die Verheerungen des Kolonialismus, der das wahnwitzigen Aufbrausen des Reichtums in Europa erst ermöglichte. Wenn aber das Herz der Finsternis am Kongofluß liegt, so ist Brüssel der Kopf der Finsternis, und Brüssel ist inzwischen die Hauptstadt Europas. Angesichts solcher Zusammenhänge kann der Dichter auf die empirischen Belgier unserer Tage keine große Rücksicht nehmen. Proust hat eine gewaltige Kathedrale der vergangenen Zeit errichtet, in deren Bau die großen mondänen Hotels samt der sie ermöglichenden fernen afrikanischen Marter nur als kleine Bausteine oder als Flecken im Mauerwerk eingegangen sind. Wie der Dichter Bergotte in den Mauerfleck auf Vermeers Gemälde, so mag sich auch Sebald in die Mauerflecken der Proustschen Kathedrale versenken, Wittgenstein, Austerlitz und der Major Le Strange werden dafür vielleicht schon keinen Blick mehr haben.

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