Montag, 13. Januar 2014

Sumpfheilige

Ffransis a Catrin

'Tis all in pieces, all coherence gone,
Thou know'st how lame a cripple this world is. 


Der heilige Franz lag in einem schwankenden Schilfbeet mit dem Kopf nach unten im Wasser und über die Sümpfe schritt die heilige Katharina, ein kleines Modell des Rades, auf dem man sie gebrochen hatte, in der Hand: ein Traumbild, das assoziativ anschließt an eine Wachträumerei in der Selysses sich ausgemalt hatte, über die graue Lagune nach Murano oder weiter noch auf die Isola San Francesco del Deserto in den Sümpfen der heiligen Katharina hinüberzufahren. Am Abend zuvor hatte er eine Bootsfahrt durch die Kanäle unternommen mit dem Venezianer Malachi, Träger eines Prophetennamens. Malachi ist Astrophysiker und gewohnt, alles aus der größten Entfernung zu sehen, nicht nur die Sterne. In seiner freien Zeit aber hat er viel nachgedacht über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels. Er trägt den kopernikanischen Augenblick in sich, den Augenblick, in dem der menschengemäße Kosmos zertrümmert und verschlungen wurde von der unermeßlichen und gleichgültigen Weite eines endlosen Alls, die für die Menschheit größten kosmischen Katastrophe bislang, alles ist in Stücken seither, aller Zusammenhang ist verloren, die Heiligen, prominente Opfer der Verheerung, treiben als Wasserleichen dahin oder irren verstört durch versumpftes Land.
Die Nothelferin Katharina ist uns lange schon bekannt, aus dem ersten niedergeschriebenen Absatz des Dichters. Sie, Barbara und Margarethe stecken am Rand der linken Tafel des Lindenhardter Altars hinter dem Rücken Georgs ihre gleichförmigen orientalischen Köpfe zusammen. Georg hat das mittelalterliche Tableau längst verlassen und geleitet uns durch die Schwindel.Gefühle. Als der Artist Giorgio Santini meistert er inzwischen halsbrecherisch und schwerelos die schwierige Weltlage. Katharina ist ihm offenbar nachgefolgt, dann aber, von Glück weniger begünstigt, vom Weg abgekommen.

Noch am Morgen dieses Tages hatte Selysses an Allerheiligen und an die Allerseelentage zur Zeit seiner Kindheit gedacht. Nichts war ihm seinerzeit sinnvoller erschienen als diese beiden Tage der Erinnerung an die Leiden der heiligen Märtyrer und der armen Seelen, an denen die dunklen Gestalten der Dorfbewohner seltsam gebeugt im Nebel herumgingen, als seien ihnen die Wohnungen aufgekündigt worden. Die ebenso schöne wie beängstigende Existenzweise, um nicht zu sagen das Leben der Toten und der Heiligen, ihre Nähe zu den Lebenden und der beiderseitige Grenzverkehr sind ihm immer wichtig geblieben. So sind denn auch die heilige Katharina und der heiligen Franz im venezianischen Feuchtgebiet noch nicht an das Ziel ihrer Reise gelangt.
An Ende der Schwindel.Gefühle besteigt Selysses in London ein Zug mit Fahrtziel Südostengland, wo er sich wenig später nur auf seine Englische Wallfahrt begibt. Die Ringe des Saturn sind so gesehen ein Fortsetzungsroman. Nicht, daß es dieser Überlegung bedürfte, um den Weg der Heiligen weiter zu verfolgen, Pendler an der Grenze von Leben und Tod werden sich nicht durch eine Buchgrenze aufhalten lassen. Den heiligen Franz treffen wir wieder in der Gestalt des Majors Le Strange, wie immer hat er sich emblematisch mit Vögeln umgeben. Nicht nur, daß er einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer hält, ständig ist er umschwärmt von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumlaufen, teils in der Luft ihn umfliegen. Als Selysses in Irland die Ashburys verlassen hat, reut es ihn schon bald, nicht geblieben zu sein, um ihr Tag für Tag unschuldiger, man kann auch sagen heiliger werdendes Leben für immer zu teilen. Mrs. Ashbury hatte er schon himmelwärts auffahren sehen, wenn sie auch im Plafond steckengeblieben war, und die Tochter Catherine glaubt er Jahre später in Berlin als die Katharina in Reinhold Lenz’ Dramenfragment wiederzuerkennen. Zwar ist es nicht Katharina mit dem Radl, sondern die aus Siena, aber auf Trennschärfe kommt es nicht an, die beiden Verkörperungen der Katharina werden bei schwindendem Heiligenbewußtsein ohnehin zunehmend verwechselt und sind eigentlich schon eins geworden. Das Heiligenpaar aus Venedig ist jedenfalls wieder in trocknem Gelände.

Auch die Ringe des Saturn haben ihren kopernikanischen Augenblick, nicht in der Astronomie, sondern in der Heilkunst und nicht, wie im Fall des Malachi, als spätes Echo, sondern unmittelbar an der zeitlichen Quelle. Rembrandt hat zahllose Bilder zu biblischen Geschichten gemalt, der Dichter aber verweilt bei einem Modernitätsbild, der Prosektur des Dr. Tulp. Einesteils handelt es sich um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Freude über die Ablösung des Alten durch ein Neues kann nicht aufkommen. Die Welt ist ein lahmer Krüppel, wie John Donne, jünger noch als Rembrandt, mit Blick auf die kosmischen Katastrophe diagnostiziert, Kant und andere nach ihm haben die kranken Glieder des Patienten nur notdürftig von den Folgen des schweren Unfalls wieder heilen können.

Sebald ist der Dichter des fortdauernden Modernitätsschocks. Immer wieder sinnt auch er auf Remedur, mit poetischen Mitteln. Gleich bei der Einfahrt nach Italien träumt es Selysses von Tiepolos Bild der heiligen Thekla, auf dem die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren und uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. Auch später in Padua, auf Giottos Bild von der Beweinung Christi, haben die weit oben segelnden Engel noch den uneingeschränkten Überblick, unter sich sehen sie allerdings nicht als Leid. An Hebel fasziniert Sebald, wie er die alte Welt beisammen hält, dem blind und taub sich fortwälzendem Lauf der Geschichte Begebenheiten entgegenstellt, in denen ausgestandenes Unheil entgolten wird, auf einen Feldzug ein Friedensschluß folgt, jedes aufgegebene Rätsel seine Lösung hat. Im Zug nach Mailand gehen Selysses beim Studium einer schlichten italienischen Sprachlehre ganz ähnliche Gedanken durch den Sinn, die von der Banalität ihrer Quelle sogleich mit lächelndem Selbstspott desavouiert werden. Bei Hebel läßt uns die feine Gestalt seiner Erzählungen für einen Augenblick Abstand nehmen vom deprimierenden Gebrauch der eigenen Vernunft, bei Sebald findet die Neuzeit ihre Legitimität in der mit Schönheit und Freundlichkeit ausgestatteten, zutiefst bewohnbaren Prosa.

Franz und Katharina sind durch Namensassoziation auf den Plan gerufen worden, sind sie frei austauschbar, hätten es, bei entsprechender Benennung venezianischer Lokalitäten, ebensogut auch der heilige David und die heilige Kunigunde sein können? In jedem Fall dürfte der Vogelfreund Franz mit dem wittgensteingemäßen Lebenswandel dem Dichter recht gewesen sein. Im Zusammenspiel mit der auf dem Rad gebrochenen Katharina wiederholt der milde Heilige in etwa den aus den kleinen Kapellen bei W. vertrauten Gegensatz, die Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten nicht weniger als in seiner Unerfüllbarkeit der Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille.

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