De nada me valieron el fulgor y el dragón y el San Jorge
In seinem Essay Donner à Voir im Band Searching for Sebald klärt Adrian Daub darüber auf, daß der Major George Wyndham Le Strange in den Ringen des Saturn eine fiktive Gestalt ist. Der Zeitungssausriß Housekeeper Rewarded for Silent Dinners, der das Gegenteil und die leibhaftige Realität des Majors belegen soll, ist von Sebald gefälscht oder, besser: fabriziert worden. Nun ist das in keiner Hinsicht eine Entdeckung, die den Sebaldleser und -freund aus der Bahn wirft. Ihm war so oder so klar, daß George Wyndham Le Strange dem Herzen des Dichters besonders nahe steht, ob er seinen Glanz nun dem Grau einer realen Gestalt abgewonnen oder ob er seinem strahlenden Helden gleich noch ein vorgeblich reales Substrat hinzugedichtet hat. Die zweite Version schien angesichts ihrer sebaldtypischen Hinterlist ohnehin die wahrscheinlichere.
Führen wir uns George Wyndham Le Strange vor Augen: Er nimmt an der Befreiung von Bergen Belsen teil und zieht sich anschließend in noch recht jungen Jahren auf seine Landgüter zurück, um in eigenwilliger Weise Logis in einem Landhaus zu beziehen. Als Haushälterin verschreibt er sich eine einfache junge Frau namens Florence Barnes unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnimmt. Le Strange sei in seinem späteren Alter, weil er seine Garderobe völlig abgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen wollte, in Kleidern aus früheren Zeiten herumgegangen, die er bei Bedarf aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervorholte. Es gab Leute, die behaupteten, ihn gelegentlich gesehen zu haben in einem kanarienfarbenen Gehrock (vielleicht derselbe gelbe Rock, den Stendhal sich besorgt hatte, um, wie er glaubte, Métilde Dembowski inkognito beobachten zu können, eine völlige Fehleinschätzung, wie sich bald erwies) oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Auch hieß es, Le Strange, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer gehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. Einmal im Sommer habe Le Strange in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er tage- und nächtelang gesessen sei gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste.
Adrian Daubs Nachweis erleichtert die Entdeckung und Deutung der Gleichheit der Initialen von George Wyndham Le Strange (GWS) und W.G. Sebald (WGS), die jetzt, angesichts der Fiktionalität des Helden, nicht mehr als naturgegeben, sondern nur noch als gewollt gelten kann. Die vermutete Identifikation Sebalds mit seinem Helden ist für den Sebaldleser und -freund fortan eine unumstößliche Wahrheit. Offen bleibt dabei, was Identifikation näher bedeuten mag.
In der Erzählung Ambros Adelwarth schildert Sebald einen verfehlten und mißlingenden Identifikationsversuch: Es folgte eine kurze Phase der inneren Amerikanisierung meiner Person, während der ich streckenweise zu Pferd, streckenweise in einem dunkelbraunen Oldsmobile die Vereinigten Staaten in allen Himmelsrichtungen durchquerte, und die ihren Höhepunkt erreichte zwischen dem sechzehnten und siebzehnten Lebensjahr, als ich die Geistes- und Körperhaltung eines Hemingway-Helden an mir auszubilden versuchte, ein Simulationsprojekt, das aus verschiedenen Gründen, die man sich denken kann, von vornherein zum Scheitern verurteilt war.
Eine andere und erfolgreichere, vom Autor nicht mit gleicher Offenheit eingestandene ist die mit dem Namenspatron Georg. Diese Identifikation zielt nicht auf die Ausbildung einer vergleichbaren Geistes- oder gar Körperhaltung und hat vielmehr den Charakter eines Wiedererkennens bestimmter Komponenten der Lebenssituation, naturgemäß begünstig für Sebald, der immer nur ungern über eine Koinzidenz hinweggegangen ist, durch die Namensgleichheit.
Eine frühe Begegnung mit dem Heiligen hatte Seylsses bereits als Kind noch vor der Hemingwayanwandlung in seinem Heimatort W. gemacht. Sein Weg ging am Lehrerhaus und am Kaplanhaus vorbei die hohe Friedhofsmauer entlang, an deren Ende der heilige Georg ohne Unterlaß mit seinem Spieß dem zu seinen Füßen liegenden greifartigen Vogeltier den Rachen durchbohrte; er bohrt bis auf den heutigen Tag. Mag sein, daß bereits damals eine erste tastende und eher ratlose Phase der Identifikation eingesetzt hat. Erkennbar hat sich Sebald-Selysses dann später mit dem Heiligen Georg identifiziert in zwei Bildwerken, der linken Tafel des Lindenhardter Altars von Grünewald, wo Georgius Miles, der Mann mit eisernem Rumpf, erzen geründeter Brust, rotgoldenem Haupthaar und silbernen weiblichen Zügen offenbar auf dem Sprung ist, die Welt des Mittelalters zu verlassen, dessen Vertreter ihn umringen in Gestalt der verbleibenden heiligen Nothelfer; und sodann Pisanellos San Giorgio con capello di paglia, zur Linken die alte Welt in dunklem Gewand und mit strengem Blick, rechts San Giorgio im Licht mit den ausdrücklichen Merkmalen der herzbewegenden Weltlichkeit und der schutzlosen Unschuld. Das Böse hat sein Leben ausgehaucht. Die Jungfrau mit dem Erlöserkind verbleibt im Schwebezustand darüber. Die Identifikation betrifft den kurzen Augenblick der Hoffnung auf eine bessere Zeit beim Ausgang von der alten zur neuen Zeit, ein Hoffnungsaugenblick, der sich wiederholte, als Sebald geboren wurde und das Dritte Reich endlich sein Leben aushauchte.
Adrian Daub richtet seine besondere Aufmerksamkeit auf das Photo, daß in den Ringen des Saturn Bergen Belsen darstellen soll, an dessen Befreiung Wyndham Le Strange teilgenommen haben soll. Die Eigenartigkeit dieses Bildes ist auch dem aufgefallen, dessen Aufmerksamkeit eher auf die Prosa gerichtet blieb. Insbesondere in der Vollversion der Eichbornausgabe und dann, wenn der Blick auf die obere Bildhälfte fällt, wird man es zuerst der Gattung der Baum- und Waldphotos zurechnen, die Sebalds überbordender und immer überbordend schöner Baum- und Waldprosa entsprechen; senkt sich der Blick langsam gegen die untere Bildhälfte, mag es scheinen als habe eine der Nomadenscharen, die Selysses überall begegnen - in der ganzseitigen Illustration der Wüste Sinai, auf italienischen Bahnhöfen, in der neuen Pariser Nationalbibliothek - hier ihr Lager aufgeschlagen. Erst bei weiterer Vertiefung würde sich bei dieser Blickfolge die schreckliche Wahrheit des Bildes enthüllen.
Drei Gründe, neben den bereits von Daub dargelegten, könnten für die Wahl dieses Photos sprechen. Einmal die besondere Dezenz, zu der Sebald, der an der Befreiung Bergen Belsens nicht teilgenommen hat, sich genötigt sah, also keine umstandslosen Leichenberge, und zum anderen der symbolische Bildgehalt: Die Welt schluckt auch das unermeßlichste Grauen und zwar, so skandalös es ein mag, in Schönheit, in der Schönheit der Bäume und Wälder. Die dritte Möglichkeit aber heißt: es ist der Wald, in dem der Heilige Georg, in der Darstellung Altdorfers, den Drachen getötet hat, denn immerhin wurde Bergen Belsen befreit und der Drachen des Bösen niedergerungen, auch wenn der Sieg natürlich viel zu spät kam und auch nichts mehr ändern konnte an der totalen Niederlage des Menschseins.
Zur Linken und zur Mitte hin ein Saum dunkelgrüner Baumwipfel, zur Rechten die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben bereits ausgehaucht. Die aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung versammelt auf sich allen Abendschein. Nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt auf das jugendliche Gesicht Georgs. Schutzlos sind Nacken und Hals dem Betrachter preisgegeben. Die Komposition des Pisanellogemäldes, so wie Selysses es sieht, entspricht in seiner Komposition der Wyndham Le Strange gewidmete Textabschnitt. Der dunkle Wald von Bergen Belsen ist verlassen, Le Strange steht da in der Helle seines kanarienfarbenen Rocks und der Gloriole des ihm umschwärmenden Federviehs: Ich wüßte gern, wie Pisanello auf den Gedanken gekommen ist, den heiligen Georg ausgerechnet mit einer solchen, angesichts der Umstände eigentlich unpassenden, ja geradezu extravaganten Kopfbedeckung auszustaffieren. San Giorgio con cappella di paglia. An Extravaganz nicht nur der Gloriole übertrifft Le Strange Pisanellos Giorgio um Längen.
Neben dem Sebalds Werk prägenden Willen, Verbrechen und Leid nicht zu vergessen, steht die Sehnsucht, herauszutreten aus dem Wald der Schuld. Wenn Wyndham Le Strange sich in den Heiligen Franz in einer Wolke von Federvieh und in den Heiligen Hieronymus verwandelt - ein wahrhaft flimmernder Hintergrund von Heiligkeit -, nicht aber in den Heiligen Georg, dann nur, weil er Georg ist in einer zeitgemäßen Inkarnation. Ein Major ist eine Untergattung des Miles, die parallelen Initialreihen verlängern sich von WGS und GWS in MWGS und MGWS, Miles Sebald-Selysses ist Major Wyndham ist Miles Georgius ist Wyndham Le Strange.
Natürlich ist Georgius Miles nicht mehr derselbe, der er einmal war. Er ist alt geworden, er tritt nicht mehr hoffnungsfroh heraus aus dem Tableau in die neue Welt, der Drache hat sein Leben keineswegs ausgehaucht, der Schritt heraus führt den modernen Heiligen wieder, wie viele Vorgänger des Heiligen Georg, nicht in eine hoffnungsfrohe Zukunft, sondern heraus aus der Welt, so wie Georg selbst, in der Inkarnation des Wyndham, die Gestalt des weltflüchtigen Hieronymus annimmt. Der Major George Wyndham ist Georgius Miles als Le Strange, ein der Welt Fremder, nicht im Sinne Camus, sondern im Sinne Sebalds, als jemand, der dem Grauen ins Auge geschaut hat und als jemand mit einem von Tag zu Tag unschuldiger werdenden Leben in einer schuldbeladenen Welt, so wie die Ashburys, wie Janine Rosalind Dakyns und Michael Parkinson, wie Dr. Abramsky in der Narrenburg Haus Samaria, wie der Richter Frederick Farrar, der nur noch mit Entsetzen zurückschaut auf sein mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebrachtes Leben und wie viele andere in Sebalds Personal auch noch, lauter auf ihre Art glückliche Menschen, lauter Soldaten in der Kohorte des Georgius Miles. Selysses hatte Mrs. Ashburys unausgesprochenen Aufforderung verspürt, er möge bei ihnen bleiben und ihr Leben teilen, daß er es nicht getan habe – dieses Versagen ziehe ihm heute noch manchmal wie ein Schatten über die Seele: aber er ist ja geblieben und hat ihrer aller nach dem Vorbild des Heiligen in schutzloser Unschuld geführtes Leben aufgezeichnet.
Der Verfasser dieses kleinen Sebaldstückes versucht verzweifelt, seine Initialen in einer Weise zu ordnen, die ihm eine Annäherung an das glorreiche Trio Selysses, Le Strange und Georgius ermöglichen. Aber selbst unter Aufbietung aller in seinem schon länger andauernden Leben verwendeten Pseudonyme läßt sich nichts ausrichten. Wie man es auch dreht und wendet, die Distanz bleibt gewaltig.
Führen wir uns George Wyndham Le Strange vor Augen: Er nimmt an der Befreiung von Bergen Belsen teil und zieht sich anschließend in noch recht jungen Jahren auf seine Landgüter zurück, um in eigenwilliger Weise Logis in einem Landhaus zu beziehen. Als Haushälterin verschreibt er sich eine einfache junge Frau namens Florence Barnes unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnimmt. Le Strange sei in seinem späteren Alter, weil er seine Garderobe völlig abgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen wollte, in Kleidern aus früheren Zeiten herumgegangen, die er bei Bedarf aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervorholte. Es gab Leute, die behaupteten, ihn gelegentlich gesehen zu haben in einem kanarienfarbenen Gehrock (vielleicht derselbe gelbe Rock, den Stendhal sich besorgt hatte, um, wie er glaubte, Métilde Dembowski inkognito beobachten zu können, eine völlige Fehleinschätzung, wie sich bald erwies) oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Auch hieß es, Le Strange, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer gehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. Einmal im Sommer habe Le Strange in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er tage- und nächtelang gesessen sei gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste.
Adrian Daubs Nachweis erleichtert die Entdeckung und Deutung der Gleichheit der Initialen von George Wyndham Le Strange (GWS) und W.G. Sebald (WGS), die jetzt, angesichts der Fiktionalität des Helden, nicht mehr als naturgegeben, sondern nur noch als gewollt gelten kann. Die vermutete Identifikation Sebalds mit seinem Helden ist für den Sebaldleser und -freund fortan eine unumstößliche Wahrheit. Offen bleibt dabei, was Identifikation näher bedeuten mag.
In der Erzählung Ambros Adelwarth schildert Sebald einen verfehlten und mißlingenden Identifikationsversuch: Es folgte eine kurze Phase der inneren Amerikanisierung meiner Person, während der ich streckenweise zu Pferd, streckenweise in einem dunkelbraunen Oldsmobile die Vereinigten Staaten in allen Himmelsrichtungen durchquerte, und die ihren Höhepunkt erreichte zwischen dem sechzehnten und siebzehnten Lebensjahr, als ich die Geistes- und Körperhaltung eines Hemingway-Helden an mir auszubilden versuchte, ein Simulationsprojekt, das aus verschiedenen Gründen, die man sich denken kann, von vornherein zum Scheitern verurteilt war.
Eine andere und erfolgreichere, vom Autor nicht mit gleicher Offenheit eingestandene ist die mit dem Namenspatron Georg. Diese Identifikation zielt nicht auf die Ausbildung einer vergleichbaren Geistes- oder gar Körperhaltung und hat vielmehr den Charakter eines Wiedererkennens bestimmter Komponenten der Lebenssituation, naturgemäß begünstig für Sebald, der immer nur ungern über eine Koinzidenz hinweggegangen ist, durch die Namensgleichheit.
Eine frühe Begegnung mit dem Heiligen hatte Seylsses bereits als Kind noch vor der Hemingwayanwandlung in seinem Heimatort W. gemacht. Sein Weg ging am Lehrerhaus und am Kaplanhaus vorbei die hohe Friedhofsmauer entlang, an deren Ende der heilige Georg ohne Unterlaß mit seinem Spieß dem zu seinen Füßen liegenden greifartigen Vogeltier den Rachen durchbohrte; er bohrt bis auf den heutigen Tag. Mag sein, daß bereits damals eine erste tastende und eher ratlose Phase der Identifikation eingesetzt hat. Erkennbar hat sich Sebald-Selysses dann später mit dem Heiligen Georg identifiziert in zwei Bildwerken, der linken Tafel des Lindenhardter Altars von Grünewald, wo Georgius Miles, der Mann mit eisernem Rumpf, erzen geründeter Brust, rotgoldenem Haupthaar und silbernen weiblichen Zügen offenbar auf dem Sprung ist, die Welt des Mittelalters zu verlassen, dessen Vertreter ihn umringen in Gestalt der verbleibenden heiligen Nothelfer; und sodann Pisanellos San Giorgio con capello di paglia, zur Linken die alte Welt in dunklem Gewand und mit strengem Blick, rechts San Giorgio im Licht mit den ausdrücklichen Merkmalen der herzbewegenden Weltlichkeit und der schutzlosen Unschuld. Das Böse hat sein Leben ausgehaucht. Die Jungfrau mit dem Erlöserkind verbleibt im Schwebezustand darüber. Die Identifikation betrifft den kurzen Augenblick der Hoffnung auf eine bessere Zeit beim Ausgang von der alten zur neuen Zeit, ein Hoffnungsaugenblick, der sich wiederholte, als Sebald geboren wurde und das Dritte Reich endlich sein Leben aushauchte.
Adrian Daub richtet seine besondere Aufmerksamkeit auf das Photo, daß in den Ringen des Saturn Bergen Belsen darstellen soll, an dessen Befreiung Wyndham Le Strange teilgenommen haben soll. Die Eigenartigkeit dieses Bildes ist auch dem aufgefallen, dessen Aufmerksamkeit eher auf die Prosa gerichtet blieb. Insbesondere in der Vollversion der Eichbornausgabe und dann, wenn der Blick auf die obere Bildhälfte fällt, wird man es zuerst der Gattung der Baum- und Waldphotos zurechnen, die Sebalds überbordender und immer überbordend schöner Baum- und Waldprosa entsprechen; senkt sich der Blick langsam gegen die untere Bildhälfte, mag es scheinen als habe eine der Nomadenscharen, die Selysses überall begegnen - in der ganzseitigen Illustration der Wüste Sinai, auf italienischen Bahnhöfen, in der neuen Pariser Nationalbibliothek - hier ihr Lager aufgeschlagen. Erst bei weiterer Vertiefung würde sich bei dieser Blickfolge die schreckliche Wahrheit des Bildes enthüllen.
Drei Gründe, neben den bereits von Daub dargelegten, könnten für die Wahl dieses Photos sprechen. Einmal die besondere Dezenz, zu der Sebald, der an der Befreiung Bergen Belsens nicht teilgenommen hat, sich genötigt sah, also keine umstandslosen Leichenberge, und zum anderen der symbolische Bildgehalt: Die Welt schluckt auch das unermeßlichste Grauen und zwar, so skandalös es ein mag, in Schönheit, in der Schönheit der Bäume und Wälder. Die dritte Möglichkeit aber heißt: es ist der Wald, in dem der Heilige Georg, in der Darstellung Altdorfers, den Drachen getötet hat, denn immerhin wurde Bergen Belsen befreit und der Drachen des Bösen niedergerungen, auch wenn der Sieg natürlich viel zu spät kam und auch nichts mehr ändern konnte an der totalen Niederlage des Menschseins.
Zur Linken und zur Mitte hin ein Saum dunkelgrüner Baumwipfel, zur Rechten die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben bereits ausgehaucht. Die aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung versammelt auf sich allen Abendschein. Nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt auf das jugendliche Gesicht Georgs. Schutzlos sind Nacken und Hals dem Betrachter preisgegeben. Die Komposition des Pisanellogemäldes, so wie Selysses es sieht, entspricht in seiner Komposition der Wyndham Le Strange gewidmete Textabschnitt. Der dunkle Wald von Bergen Belsen ist verlassen, Le Strange steht da in der Helle seines kanarienfarbenen Rocks und der Gloriole des ihm umschwärmenden Federviehs: Ich wüßte gern, wie Pisanello auf den Gedanken gekommen ist, den heiligen Georg ausgerechnet mit einer solchen, angesichts der Umstände eigentlich unpassenden, ja geradezu extravaganten Kopfbedeckung auszustaffieren. San Giorgio con cappella di paglia. An Extravaganz nicht nur der Gloriole übertrifft Le Strange Pisanellos Giorgio um Längen.
Neben dem Sebalds Werk prägenden Willen, Verbrechen und Leid nicht zu vergessen, steht die Sehnsucht, herauszutreten aus dem Wald der Schuld. Wenn Wyndham Le Strange sich in den Heiligen Franz in einer Wolke von Federvieh und in den Heiligen Hieronymus verwandelt - ein wahrhaft flimmernder Hintergrund von Heiligkeit -, nicht aber in den Heiligen Georg, dann nur, weil er Georg ist in einer zeitgemäßen Inkarnation. Ein Major ist eine Untergattung des Miles, die parallelen Initialreihen verlängern sich von WGS und GWS in MWGS und MGWS, Miles Sebald-Selysses ist Major Wyndham ist Miles Georgius ist Wyndham Le Strange.
Natürlich ist Georgius Miles nicht mehr derselbe, der er einmal war. Er ist alt geworden, er tritt nicht mehr hoffnungsfroh heraus aus dem Tableau in die neue Welt, der Drache hat sein Leben keineswegs ausgehaucht, der Schritt heraus führt den modernen Heiligen wieder, wie viele Vorgänger des Heiligen Georg, nicht in eine hoffnungsfrohe Zukunft, sondern heraus aus der Welt, so wie Georg selbst, in der Inkarnation des Wyndham, die Gestalt des weltflüchtigen Hieronymus annimmt. Der Major George Wyndham ist Georgius Miles als Le Strange, ein der Welt Fremder, nicht im Sinne Camus, sondern im Sinne Sebalds, als jemand, der dem Grauen ins Auge geschaut hat und als jemand mit einem von Tag zu Tag unschuldiger werdenden Leben in einer schuldbeladenen Welt, so wie die Ashburys, wie Janine Rosalind Dakyns und Michael Parkinson, wie Dr. Abramsky in der Narrenburg Haus Samaria, wie der Richter Frederick Farrar, der nur noch mit Entsetzen zurückschaut auf sein mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebrachtes Leben und wie viele andere in Sebalds Personal auch noch, lauter auf ihre Art glückliche Menschen, lauter Soldaten in der Kohorte des Georgius Miles. Selysses hatte Mrs. Ashburys unausgesprochenen Aufforderung verspürt, er möge bei ihnen bleiben und ihr Leben teilen, daß er es nicht getan habe – dieses Versagen ziehe ihm heute noch manchmal wie ein Schatten über die Seele: aber er ist ja geblieben und hat ihrer aller nach dem Vorbild des Heiligen in schutzloser Unschuld geführtes Leben aufgezeichnet.
Der Verfasser dieses kleinen Sebaldstückes versucht verzweifelt, seine Initialen in einer Weise zu ordnen, die ihm eine Annäherung an das glorreiche Trio Selysses, Le Strange und Georgius ermöglichen. Aber selbst unter Aufbietung aller in seinem schon länger andauernden Leben verwendeten Pseudonyme läßt sich nichts ausrichten. Wie man es auch dreht und wendet, die Distanz bleibt gewaltig.
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