Donnerstag, 10. Mai 2012

Zirkusmenschen

Santini

Wenn, wie Sebald in einem Gespräch bekennt, die Schwindel.Gefühle eine einzige Hommage an Kafka sind, ist es nur angemessen, wenn in dem Buch auch Zirkusleute auftreten. Große Ähnlichkeiten mit Kafkas Kunstreiterin oder seinem Hungerkünstler haben Sebalds Artisten aber zu mindest auf den ersten Blick nicht.

Giorgio Santini, das Haupt der kleinen Artistentruppe, mit der Selysses die Wartezeit im Mailänder Konsulat teilt, ist, mit dem wirklich wunderbaren, formvollendeten weitkrempigen Strohhut, den er in den Händen trägt, leicht und zweifelsfrei als Reinkarnation des San Giorgio zu erkennen, der auf Pisanellos Bild Con cappello di paglia eben diesen außergewöhnlich schön gearbeiteten, weitkrempigen Strohhut auf dem Kopf hat. Er ist leicht zu erkennen und wiederum auch nicht, denn Pisanellos Bild wird erst viele Seiten später, ganz zum Ende des Buches vorgestellt, und die Zahl derjenigen, die das Bild schon immer als ihr ständiges Gepäck mit sich trugen und daher ohne Hilfe des Dichters bei der Artistenszene aufmerken, ist sicher gering. Zwar ist San Giorgio schon zuvor im Text auf einem Fresko Pisanellos in der Chiesa Sant’ Anastasia in Verona in Erscheinung getreten, aber in dieser Darstellung sind die Anklänge für eine Wiedererkennung zu gering.

Wer San Giorgio nicht erkennt oder wiedererkennt, wird auch beim italienischen Nachnamen Santini nicht aufmerken oder sich gar fragen, wieso der Heilige Georg, der bei Grünewald sich anschickt, aus dem Verband der Santi Ausiliatori auszuscheren, in einen Kreis kleiner Heiliger, Santini, zurückgefunden hat. Beim Windrädchen einer der drei Töchter mag er flüchtig zurückdenken an die heilige Katharina, die, ein kleines Modell des Rads, auf dem man sie gebrochen hatte, in der Hand, in Venedig über die Sümpfe schreitet, aber vielleicht schon nicht mehr an Catherine Ashbury, die sich ihrerseits in einer Theatervorstellung in Caterina da Siena verwandeln wird. Die drei Mädchen mit Windrädchen, Teleskop und Sonnenschirm werden ihm aber Roza, Lusia und Lea alias Nona, Decuma und Morta, die Töchter der Nacht, mit Spindel und Faden und Schere vor Augen rufen und diese dann doch, auf einem Umweg, die drei irischen Schwestern Catherine, Clarissa und Christina. Er wird verzeichnen, daß die Näharbeit im Mailänder Konsulat an die Nonna, dem deutschen Wort Norne ganz ähnlich, übergegangen ist.

Wer von alldem gar nichts bemerkt, muß nicht verzagen. Er kann etwa darüber nachsinnen, warum einer der wenigen intakten Familienverbände in einem Werk, in dem uns fast ausschließlich Einzelne ohne erkennbare familiäre oder ähnliche Bindungen begegnen, aus Zirkusartisten besteht; warum gerade Zirkusartisten in ihrem Auftreten ein Höchstmaß bürgerlicher Wohlanständigkeit an den Tag legen; er mag sich fragen, ob ihre Zeit nicht noch weiter als fünfzig Jahre, wie Selysses vermutet, zurückreicht, nämlich bis ins Jahr 1913, dem allerletzten historischen Moment, als vielleicht alles noch hätte ganz anders kommen können, als es dann gekommen ist.

Wem auch das unauffällig ist, weil er vielleicht selbst Mitglied einer ähnlich strukturierten Familie ist und auch der äußeren Erscheinung der Santinis keine besondere Beachtung schenkt, der mag sich fragen, warum überhaupt es sich bei den Santinis, wie Selysses lakonisch bemerkt, zweifelsohne um Zirkusartisten handeln soll, oder auf welche Weise es sich schließlich herausstellt, daß die beiden Giorgio und Rosa Santini heißen.

Die kleine Artistenepisode im Mailänder Konsulat ist ein schönes Beispiel für die vielfältigen Lesemöglichkeiten fast jeder Erzählstelle bei Sebald. Mit jeder zusätzlich erfaßten Möglichkeit wird das Leseerlebnis reicher aber keineswegs klarer im Ergebnis. Auch wer die ganze Szene nur als kleine Auflockerung im Erzählvorgang liest, wird doch den Schimmer des Rätselhaften spüren, der über ihr liegt, und wer bis zum Heiligen Georg vordringt, dem ist alles nur noch rätselhafter geworden.

Liest man im unmittelbaren Anschluß an die Artistenszene der Schwindel.Gefühle diejenige aus Austerlitz, so scheinen die Bindungen zwischen den beiden Szenen enger zu sein als die der jeweiligen Szene zu ihrer Erzählumgebung. In Mailand trifft man die Artisten bei einer staatsbürgerlichen Obliegenheit, in Paris sind sie, unter dem Namen Bastiani, bei der Ausübung ihres Berufes zu beobachten. In beiden Fällen ist es, läßt man die Nonna beiseite, ein fünfköpfige Familie, und wenn verschiedene Realitätsbestimmungen auszuschließen scheinen, daß es in Mailand und Paris dieselbe Familie ist, so kann man wiederum fragen, welche Kraft Realitätsbestimmungen haben, wenn San Giorgio leibhaftig mit von der Partie ist. Giorgio, wenn er es denn ist, betätigt sich als Zauberkünstler, in der Schlußszene dann sind alle, Giorgio, die sehr schöne Frau und die drei schwarzgelockten, nicht weniger schönen Kinder in lange pelzgesäumte orientalische Mäntel gekleidet und gewissermaßen entindividualisiert, genauere Erkenntnisse über die einzelnen Mitglieder der Truppe sind damit nicht möglich.
In beiden Fällen dienen die Artistenszenen offenbar nicht der Beförderung des Handlungsverlaufes, scheinen ihn vielmehr, soweit von einem solchen bei Sebald überhaupt gesprochen werden kann, willkürlich zu unterbrechen. In einem Gespräch hat Sebald die Zirkusszene in Austerlitz als Farbtupfer in grauer Umgebung gedeutet und damit eine schlichte Lesart vorgeschlagen. Die schlichte Lesart ist immer möglich bei Sebald aber nie die einzig mögliche. Wenn die Artistenszene in Mailand auf rätselhafte Weise und aus rätselhaftem Grund in den Motivstrang der Heiligen eingebunden ist, so nimmt die Zirkusszene in Paris teil am das Austerlitzbuch durchziehenden Thema von groß und klein. Offenbar paßt der Zirkus zur Feldhütte, zur Eremitage, zum Häuschens des Schrankenwärters, zum Aussichtspavillon, zur Kindervilla im Garten, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, und so wenig wie jemand, der bei rechten Sinnen ist, behaupten kann, daß der Brüsseler Justizpalast ihm gefalle, so wenig hätte eine Zirkusvorstellung unter einem riesigen Chapiteau in Sebalds Prosa stattfinden können. Im Zirkus Bastiani ist der Himmel über unseren Köpfen ganz nah und das Firmament an seinem unteren Rand fast mit den Händen zu greifen. Mit dem kleinen Hahn und der schneeweißen Gans hält nicht nur Dörfliches Einzug in die große Stadt Paris, sondern auch die spezielle Metaphysik des Federviehs, anschließend an die Hühner, die hinauslaufen auf das regennasse Feld in Tirol, an die Enten im Wasser des Grabens vor Alec Garrads Haus, deren Farbgebung als einzig mögliche Antwort auf die uns bewegenden Fragen erscheint, an die Perlhühner, Fasanen, Tauben und Wachteln und die verschiedenen Garten- und Singvögel, die Le Strange umfliegen. Mit etwas vorgerecktem Hals und gesenkten Lidern horchte die schneeweiße Gans in dem vom gemalten Himmelszelt überspannten Raum hinein, als kenne sie ihr eigenes Los und auch das derjenigen, in deren Gesellschaft sie sich befand.

Unter dem zum Greifen nahen, behütenden Sternenhimmel des Zeltes stimmen die Fünf eine wahre Weltmusik an, verhalten und zugleich durchdringend, mal klingt es wie aus dem fernen Kaukasus oder aus der Türkei, mal wie ein altes walisisches Kirchenlied mal wie ein Walzer oder Ländler, mal wie ein schleppender Trauermarsch, ein fast grenzenloses Konzert, ein Welttheater auf kleinsten Raum. Wer würde nicht an die kleine Ortschaft W.* denken, aus der, ein wahres Wunder, Sebalds Weltprosa sich erhoben hat.

Das Auftreten der Artisten ist in beiden Fällen überraschend, einmal ganz generell, weil man auf Vertreter dieser nur noch wenig repräsentativen Bevölkerungsgruppe überhaupt nicht gefaßt war und am allerwenigsten dann dort, wo man sie dann tatsächlich trifft. Die Idee, Kafka habe sie aus seiner Zeit eingeschleust, ist naturgemäß aus der Luft gegriffen, deswegen aber nicht unbedingt falsch. Austerlitz und Marie betreten den Zirkus Bastiani im stillen Einvernehmen und verlieren dann über den Besuch weiter kein Wort. Sie können uns also auch nicht weiterhelfen. 

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