Lichtnetz

Kleine Sebaldstücke




Ein paar Dutzend toter Bäume, die vor Jahren schon von den Klippen herabgestürzt sein müssen, liegen wild durcheinander. Ausgebleicht vom Salzwasser, vom Wind und von der Sonne, sieht das zerbrochene rindenlose Holz aus wie die Gebeine irgendeiner vor langer Zeit an diesem einsamen Ufer zugrundegegangenen, selbst die Mammuts und Saurier überragenden Art. Der Fußpfad führt nun um den Verhack herum, durch eine Ginsterböschung auf die Anhöhe der Lehmklippe hinauf und dort in geringer Entfernung von dem stets von Einbrüchen bedrohtem Rand des festen Landes zwischen Adlerfarnen hindurch, die mir weit über die Schultern reichten. Ich war völlig verirrt in dem Farnwald. Unverständlich verirrt, denn noch vor kurzem war ich zwar nicht auf einem Weg, aber in der Nähe des Wegs gegangen, der mir auch immer sichtbar gewesen war. Nun aber war ich verirrt, der Weg war verschwunden, alle Versuche, ihn wiederzufinden, waren mißlungen. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf und wollte meine Lage überdenken, aber ich war zerstreut, dachte immer an anderes als an das Wichtigste, träumte an den Sorgen vorbei. Dann fielen mir die reichbehängten Heidelbeerpflanzen rings um mich auf, ich pflückte von ihnen und aß. Nach wenigen zögernden Schritten trat das Farnkraut unversehens auseinander und gab den Blick frei auf ein zur Kirche des nächsten Dorfes hin erstreckendes Feld. Aber was hilft es, reicht doch - von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen – schon die Zeit eines gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Gang bei weitem nicht hinreicht.
Seinen alten Volksschullehrer hat Selysses geliebt, ein echter Melammed, wie es an anderer Stelle heißt, der seine Begeisterung für die Wissensgebiete, sei es die Naturlehre, seien es die Sprachen, auf die Schüler zu übertragen wußte. So wie Sebald es erzählt, ist Selysses sein alter Lehrer erst wieder in den Sinn gekommen, als ihn die Nachricht von seinem Tod erreicht. Von Kafka aber erfahren wir nun, daß er ihn, wenig vorher nur, wie es scheint, noch einmal besucht hat. Das Verhältnis von Schüler und Lehrer ist nicht symmetrisch, der Lehrer betreut während seines Berufslebens eine nahezu unüberblickbare Zahl von Schülern, während die Schüler sich aus ihrer Volksschulzeit nur an sehr wenige Lehrer zu erinnern haben. Gemessen an den Erwartungen ist der Empfang eher kühl. Ja, du bist mein Schüler. Aber warum kommst du wieder zurück? Fast schon ein Vorwurf, könnte man meinen. Dann aber schließt sich auch schon die Tür vor unseren Augen und Nasen, mehr erfahren wir nicht. Vielleicht ist es noch zu einem langen Gespräch über vieles gekommen, und es muß nicht ein Gespräch zwischen Lehrer und Schüler geblieben sein, der Vorwurf mithin verflogen.

Mir gegenüber saßen eine Franziskanerin von vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern. Das Mädchen war in Brescia zugestiegen, die Franziskanerschwester hatte in Desenzano bereits im Zug gesessen. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte ich mir, abwesend und anwesend zugleich, und ich bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester.