Montag, 20. September 2010

Cambria

Hen Gymru fynyddig, paradwys y bardd


Wer sich auf Sebalds Prosateppichen bewegt, schaut, was eingewebt ist oder sein könnte. In Austerlitz soll die Textur in großem Umfang von der Geschichte der Susi Bechhöfer bestimmt sein, außer einigen groben Richtungsweisern für den Handlungsablauf ist aber nichts zu erkennen. Daneben ist, was den in Wales spielenden Teil des Geschehens anbelangt, Chatwins On the Black Hill im Gespräch. Chatwins unruhige und lebhafte, vor jedem neuen Satz die Fühler in die verschiedensten Richtungen ausstreckende Prosa ist so verschieden von Sebalds fließenden, legierenden, die Themen einbindenden Sätzen, daß ein Wiedererkennen schwerfällt. Ähnlich wie der Prediger Emyr Elias bei Sebald ziehen auch Chatwins Waliser das Alte Testament dem Neuen vor, in der Hauptsache aber, weil es reichlich Geschichten von Schafen enthält und so ihrer Erlebniswelt nahe steht. Chatwins Buch setzt ein unter einem Engraving of Holman Hunt’s Light of the World, Prediger verschiedener Stilrichtungen ziehen vorbei, allerdings keiner, der dem Prediger Elias ohne Einschränkungen ähnlich wäre.

Eher noch ähnelt Emyr Elias dem Amos Jones in Chatwins Buch, Farmer und Vater der Zwillinge Lewis und Benjamin. Die Härte des walisischen Farmerlebens, das bei Chatwin auch gute Menschen nahezu veröden läßt, ist bei Sebald eingetauscht gegen die Härte der calvinistischen Gotteswelt mit noch durchgreifender Wirkung. Der Prediger Emyr Elias saß, wie es seine unabänderliche Gewohnheit war in seinem Studierzimmer und dachte sich seine am nächsten Sonntag zu haltende Predigt aus. Völlig niedergeschlagen kam er jeweils am Abend aus seiner Kammer hervor, nur um am folgenden Morgen wieder in ihr zu verschwinden. Ohne weiteres erkennt Selysses in ihm wohl den Confrère und verwandten Textarbeiter. Am Sonntag führte er der versammelten Gemeinde mit erschütternder Wortgewalt das allen bevorstehende Strafgericht, die Farben des Fegefeuers und die Qualen der Verdammnis vor Augen – Selysses seinerseits hatte schon als Kind in seiner Allgäuer Heimat in der Bibliothek der Tante Mathild die zahlreichen religiösen Werke spekulativen Charakters studiert, Gebetsbücher aus dem 17. und dem frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abschilderungen der uns alle erwartenden Pein -, so daß nicht wenige am Ende des Gottesdienstes mit einem kalkweißen Gesicht nach Hause gingen. Er, der Prediger, hingegen, war den restlichen Sonntag in verhältnismäßig aufgeräumter Stimmung.

Die hellen, sich auf die Sonntagnachmittage beschränkenden, und die dunklen Seiten des Predigers Elias hatten ihre Entsprechung in der gebirgigen Landschaft um uns herum. Wie wir einmal durch das endlose Tanat-Tal hinauffuhren, rechts und links nichts als krummes Holz, Farne, und rostfarbenes Holz, und dann, das letzte Stück zu dem Joch hinauf, nur noch graues Felsengestein und treibende Nebel, so daß ich fürchtete, wir näherten uns dem äußersten Rand der Welt. Wo aber eben noch nichts als eine bodenlose Düsternis gewesen war, von dort leuchtete nun, umgeben von schwarzen Schatten ringsum, eine kleine Ortschaft herauf, grün funkelnd gleich einer Insel der Seligen. Am Abend dann, von unserem Zimmer aus, konnte man einen Förderturm sehen mit einem riesigen Rad, das sich manchmal so und manchmal andersherum drehte in dem dichter werdenden Dunkel, und weiter talabwärts sah man in regelmäßigen Abständen von jeweils drei oder vier Minuten hohe Feuer- und Funkengarben aus den Schmelzöfen eines Hüttenwerks stieben bis hoch in den Himmel hinauf.


Die dunklen Seiten überwiegen freilich nicht nur nach der Zahl der Wochentage, und das Helle schlägt um in Schnee- und Eiseskälte. Es war, als würden sie von der Kälte in ihrem Herzen langsam umgebracht. Das Predigerhaus wird mit einem billigem Talkum aus einer großen Streudose eingeweißt. Den Balasee bedeckte eine dicke Schicht Eis, und auf die Frage: What it is that so darkended our world, gibt es keine Antwort. Der schwarze Tod und die weißen Ewigkeit, verschiedentlich kehrt er wieder, dieser extreme Kontrast, beispielsweise in dem schachbrettartigen Bodenmuster des belgischen Billardbildes aus Tongeren, das nicht von ungefähr den Gedanken nahelegt, daß wir in dem jeweils vorgegebenen Rahmen auf ein risikoreiches Spiel uns einlassen, in dem mit einer falschen Bewegung alles vertan ist.

Ein ganz anderes Gepräge als die Fahrt von Y Bala aus durch das Tanat-Tal hat die später stattfindende von Croesoswallt nach Abermaw. Die Helligkeit ist hier nicht die des Eises, sondern die einer wärmenden Sonne. Wenn wir mit der kleinen Dampfbahn von Wrecsam das Tal des Afon Dyfrdwy hinauffuhren, merkte ich, wie mir das Herz aufzugehen begann, Schleife um Schleife folgte unser Zug den Windungen des Flußlaufs, durch das offene Waggonfenster schauten die grünen Wiesen herein, die steingrauen und die geweißelten Häuser, die glänzenden Schieferdächer, die silbrig wogenden Weiden, die dunkleren Erlengehölze, die dahinter aufsteigenden Schafweiden und die höheren, manchmal ganz blauen Berge und der Himmel darüber mit dem immer von Westen nach Osten ziehenden Wolken. Die Berge wurden nun höher und schoben sich näher und näher an die Geleise heran, bis hinab nach Dolgellau, wo sie wieder zurücktraten und sanftere Abhänge sich niedersenkten an die fjordartig weit landwärts reichende Mündung des Mawddach. War das Klima in der ganzen Gegend überaus mild, so lagen die Temperaturen an diesem besonders begünstigten Platz um ein paar Grad noch über dem für Abermaw geltenden Mittel. In dem vollkommen verwilderten Garten wuchsen Pflanzen und Stauden, die ich nirgends in Wales gesehen hatte zuvor, Riesenrhabarber und mehr als mannshohe neuseeländische Farne, Wasserkohl und Kamelien, Bambusdickicht und Palmen, und über eine Felswand stürzte ein Bach zu Tal, dessen weißer Staub immer das gefleckte Dämmer unter dem Blätterdach der hohen Bäume durchwehte. Doch nicht nur die in wärmeren Zonen beheimateten Gewächse gaben einem das Gefühl, man sei jetzt in einer anderen Welt – die andere Welt das ist das im Roman Andromeda Lodge genannte Paradies. Paradwys: Cymru, paradwys y bardd, Cambria, Paradies der Dichter, zwei bedeutende, Chatwin und Sebald, haben sich in unvergleichlicher Weise versucht an dem Land.

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