Sonntag, 7. November 2010

Auf dem See

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ich ruderte auf dem See. Es war für einen kurzen Augenblick wie in einer rundgewölbten Höhle ohne Tageslicht, aber doch war es hell, ein klares gleichmäßiges, von dem bläulich-blassen Stein herabstrahlendes Licht. Trotzdem kein Luftzug zu spüren war, gingen die Wellen hoch, aber nicht so, daß eine Gefahr für mein kleines, aber festes Boot bestanden hätte. Ich ruderte ruhig durch die Wellen, dachte aber kaum ans Rudern, ich war nur damit beschäftigt, mit allen meinen Kräften die Stille in mich aufzunehmen, die hier herrschte, eine Stille, wie ich sie bisher in meinem Leben niemals gefunden hatte. Auf der Abendseite versank alles bereits in den wie dunkle Fahnen über die steilen Felswände des Dosso dei Róveri herabwallenden Schatten, und auch am jenseitigen Ufer stieg der Abendglanz immer höher hinauf, bis bald nur mehr ein schwacher, rosa lodernder Schein über dem Gipfel des Monte Altissimo zu sehen war. Es war wie eine Frucht, die ich noch nie gegessen hatte und die doch die nahrhafteste von allen Früchten war, ich hatte die Augen geschlossen und trank sie in mich. Freilich nicht ungestört, noch war die Stille vollkommen, aber fortwährend drohte eine Störung, noch hielt irgend etwas den Lärm zurück, aber er war vor der Tür, platzend vor Lust, endlich loszubrechen. Ich rollte die Augen gegen ihn, der nicht da war, ich zog ein Ruder aus der Klammer, stand auf im schwankenden Boot und drohte mit dem Ruder ins Leere. Noch blieb es still und ich ruderte weiter. Die Felswände erhoben sich aus dem Wasser in das schöne Herbstlicht, so halb und halb grün, als wäre die ganze Gegend ein Album und die Berge wären von einem feinsinnigen Dilettanten der Besitzerin eines Albums aufs Leere Blatt gezeichnet worden, zur Erinnerung. Ein anderes Mal werde ich sie mit hinausnehmen auf den See, und wir werden uns einander unsere Krankengeschichten erzählen und getragen sein von einer zeitweiligen guten Besserung und einem Gefühl friedlicher Betäubung.

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