Donnerstag, 23. September 2010

Liest Rousseau

Anläßlich eines Besuchs

Kaum etwas ist so unwandelbar wie die Bosheit, mit der die Literaten hinterrücks übereinander reden.

Sebald hatte unzweifelhaft eine polemische Ader und auch eine polemische Begabung, die aber zurücksteht hinter seiner Begabung zur Liebe und Verehrung. Seine zuneigenden Aufsätze über Berufskollegen sind schöner als die angreifenden, einen besonders bedeutsamen Schritt aber macht immer dann er, wenn er sich selbst zurückzieht und das Lesen und Schreiben seinem fiktionalisierten Alter Ego Selysses überläßt und dabei eine Zeit im Leben des jeweils Beobachteten mit einer Zeit im Leben des Selysses mischt. Die Liebe, sei es zu Kafka, sei es zu Stendhal, verfließt dann nicht selten mit einem sanften Spott, mit dem sie der Schwächen ihres jeweiligen Objekts Herr wird. Die Frage der Zuneigung und des Grades der Zuneigung verliert dabei aber auch viel von ihrer Bedeutung. Im Band Logis in einem Landhaus ist der Rousseau betreffende Teil in dieser Weise gestaltet.

Rousseau und Selysses treffen sich mit mehr als zweihundert Jahren Abstand, auf der Sankt Petersinsel im Bieler See. Die Erzählung ist zunächst auf die Erlebnisse des Selysses eingestellt, schaut kurz hinüber zu Rousseau, zurück zu Selysses und so fort, bis sie dann fest bei Rousseau verweilt.


Selysses liest von den Werken Rousseaus vor allem die Confessions und die Rêveries du promeneur solitaire, daneben auch, angesichts seines aufkeimenden Interesses für die Insel, das Projet de constitution pour la Corse, geschrieben aber hat Rousseau noch weitaus mehr. Tausenden und Abertausende von Seiten hatte er in seinem fünften Lebensjahrzehnt zwischen 1751 und 1761 zu Papier gebracht und nebenher stets auch die umfangreichste Korrespondenz aufrechterhalten. Überblickt man das Ausmaß und die Verzeigtheit dieser Produktion, so kann man nur annehmen, daß er unausgesetzt über den Schreibtisch gebeugt gewesen sein muß, um die in ihm aufquellenden Gedanken und Gefühle und endlosen Buchstaben- und Zeilenreihen festzuhalten. Als er im Herbst 1765 auf die St. Peterinsel flüchtete, befand er sich bereits am Rand völliger geistiger und körperlicher Erschöpfung.

Damit sind wir am zentralen Punkt des Rousseaukapitels, dem lebenszerstörenden Denk- und Schreibzwang, dem Literaten häufig ausgesetzt sind. Eine ganze Bruderschaft bildet sich in Sebalds Werk anhand dieses Erkennungsmerkmals. Selysses selbst zählt sich in Maßen dazu, ferner Casanova: Ich sah den altgewordenen Roué, umgeben von den goldgeprägten Rängen der mehr als vierzigtausend Bänden umfassenden Bibliothek ganz für sich allein über einen Schreibsekretär gebeugt an einem trostlosen Novembernachmittag. Die Puderperücke hatte er beiseite gelegt und sein eigenes schütteres Haar schwebte, als Zeichen gewissermaßen der Auflösung seiner Körperlichkeit, wie ein kleines Wölkchen über seinem Haupt. Die linke Schulter ein wenig hochgezogen, schrieb er ununterbrochen fort. Nicht vergessen werden darf, neben anderen, die noch zu nennen wären, der Prediger Emyr Elias, der zwar; wie ausdrücklich vermerkt wird, nicht schreibt, sondern sich die Predigten nur in seinem Kopf erarbeitet, indem er sich damit peinigte, wenigstens vier Tage lang. Er saß, wie es seine unabänderliche Gewohnheit war, den Tag über in seinem Studierzimmer. Völlig niedergeschlagen kam er jeweils am Abend aus seiner Kammer hervor, nur um am folgenden Morgen wieder in ihr zu verschwinden. Am Sonntag führte er der versammelten Gemeinde mit erschütternder Wortgewalt das allen bevorstehende Strafgericht, die Farben des Fegefeuers und die Qualen der Verdammnis vor Augen, so daß nicht wenige am Ende des Gottesdienstes mit einem kalkweißen Gesicht nach Hause gingen. Er, der Prediger, hingegen, war den restlichen Sonntag in verhältnismäßig aufgeräumter Stimmung. Der Prediger Elias ist mit seinen dunklen und seinen hellen Seiten nicht ohne Sympathie geschildert und es bleibt auch durchaus offen, ob es der Gemeinde zum Schaden gereicht, wenn sie das Bethaus mit kalkbleichem Gesicht verläßt. Weniger Verständnis findet der Schweizer Kalvinismus in seiner Früh- und Blütezeit vor Ort und schon gar nicht, daß Voltaire sich im Stil eines eifernden Pastors geriert, als gehöre er dazu. In Wirklichkeit konnte er es wohl nicht verwinden, daß sein eigener Ruhm verblaßte neben dem Glanz des neu am literarischen Himmel aufgegangenen Sterns. Kaum etwas ist so unwandelbar wie die Bosheit, mit der die Literaten hinterrücks übereinander reden.

Auf der Sankt Peterinsel hofft Rousseau nicht nur, Frieden zu finden, sondern findet ihn nach dem eigenen Empfinden auch für die wenigen Wochen, die er hier verweilen darf. Er erfüllt pflichtgemäß das literarische Inbild der Ruhe und des Friedens, indem er an schönen Tagen weit in den stillen See hinausruderte. Da streckte ich mich dann in dem Kahne aus, schaute zum Himmel hinauf, ließ mich gehen und langsam vom Wasser abtreiben, oft mehrere Stunden lang. Ähnlich handeln und empfinden die Dichterkollegen Kafka: Er rudert an den Nachmittagen ein Stück weit auf den See hinaus. Die Felswände erheben sich aus dem Wasser in das schöne Herbstlicht, so halb und halb grün, als wäre die ganze Gegend ein Album und die Berge wären von einem feinsinnigen Dilettanten der Besitzerin des Albums aufs leere Blatt hingezeichnet worden, zur Erinnerung; und Grillparzer: Gegen Abend ließen wir uns auf einer Barke im Golf spazieren fahren, und ich ließ mit Wonne die Wellen um meine hineingestreckte Hand spielen; und Stendhal: Der drückenden Hitze wegen habe er die Abende draußen auf einer Barke verbracht und im Einbruch der Dunkelheit die seltensten Abstufungen der Farben gesehen und die unvergeßlichsten Stunden der Stille erlebt; und auch Selysses selbst: Auf der Abendseite versank alles bereits in den wie dunkle Fahnen über die steilen Felswände des Dosso dei Róveri herabwallenden Schatten, und auch am jenseitigen Ufer stieg der Abendglanz immer höher hinauf, bis bald nur mehr ein schwacher, rosa lodernder Schein über dem Gipfel des Monte Altissimo zu sehen war.

Die Arbeit des Schreibens riß für Rousseau auch auf der Insel nicht völlig ab, er erlebt die alles in allem nur kurze Frist seines Aufenthalts aber doch als einen Versuch, sich von den Anforderungen der Literatur zu befreien zu verstehen als eine sich stets weiter forttreibende Zwangshandlung. Von ganz anderer Art scheint ihm die Beschäftigung des Botanisierens zu sein. Kein Halmfäserchen, nicht ein Pflanzenatom solle sich seiner Beschreibung entziehen. Das klingt einerseits an an Pisanello, wenn Selysses seinen Werken abliest, er habe jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen, andererseits aber auch wie eine Übertragung des zwanghaften Handlungscharakters auf das andere, den Pflanzen zugewandte Betätigungsfeld. Nabokow, wenn er, ähnlich beschäftigt, mit seinem Schmetterlingsnetz durch die Ringe des Saturn geistert, wirkt entspannter, allerdings erfahren wir auch nur wenig von ihm und was in ihm vorgeht; immer in einer abgeklärten Stimmung ist der Großonkel Alphonso, der die Linie der naturkundigen Fitzpatricks fortführte, sich die meiste Zeit im Freien aufhielt und sogar bei schlechtestem Wetter weitschweifige Exkursionen machte.

Der Stimmungslage seiner Zeit entsprechend nähert sich Rousseau vom Botanisieren aus auch der Frage der Kristallisation. Selysses, der sich mit diesen Fragen auch schon mehrfach befaßt hat, überläßt hier Jean Starobinski die Deutung, wenn dieser feststellt , beim Kristall wisse man nicht, ob er ein Körper im Reinzustand ist oder im Gegenteil eine erstarrte Seele. Diese Konjektur von der Metamorphose der Leiber in eine pure, sozusagen der Vergänglichkeit entronnene Substanz, verkehrt sich für Rousseau in der letzten Phase seines Denkens in eine das Licht abtötende Pulverisierung, welche die menschliche Welt auf eine dunkle, unterschiedslose und undurchdringliche Masse reduziert. Offenbar hatte er sich eingelassen auf ein risikoreiches Spiel im Feld des extremen Kontrasten von schwarzem Todes und weißer Ewigkeit und mit einer falschen Bewegung alles vertan.


Ein Dutzend von Angst und Panik erfüllte Jahre stehen Rousseau noch bevor, als er am 25. Oktober die Sankt Peterinsel verläßt. Offene Paranoia bricht aus. Man muß sich vor Augen halten, daß in dieser Zeit die Marter des Denkens und Schreibens obendrein noch in einem gänzlich ungeschützten Raum stattfand. Nicht genehme Buchstaben- und Zeilenreihen konnten die übelsten Folgen haben. Aus Buchstaben- und Zeilenreihen der Art, wie sie Rousseau, unausgesetzt über den Schreibtisch gebeugt, zu Papier gebracht hat, ist der Meinungsfreiheit genannte, wie immer auch zuverlässige oder unzuverlässige Schutzraum erst hervorgegangen.

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