Sonntag, 19. Dezember 2010

Kommentar Kerker

Die Farben seien zu wertvoll, um sie an die Darstellung von Gegenständen zu verschwenden, haben neuzeitliche Maler herausgefunden, und auch wenn man von der Vernunft und Stichhaltigkeit dieser Feststellung nicht allzu tief überzeugt ist, möchte man für einen Augenblick in gleichgerichteter Weise fortfahren mit der Behauptung, die Schilderung des Eintritts in den Ladies Waiting Room der Liverpool Street Station im Roman Austerlitz sei zu schade, um lediglich eine Romanhandlung voranzutreiben, sie gehöre zum besseren Sichtbarmachung ihres ungeheuerlichen Leuchtens aus dem Zusammenhang genommen, so wie Piranesis Carceri d’Invenzione aus jedem vernünftigen Zusammenhang genommen sind. Und wenn der Name des italienischen Graveurs nun schon einmal gefallen ist, kann man sich fragen, ob die Worte Verlies und Gefängnis zufällig fallen, ob nicht die Liverpool Street Station jede Ähnlichkeit mit sich selbst eingebüßt hat und nicht vielmehr einer der beklemmenden Kerkervisionen des italienischen Meisters ähnelt? Ein Fest der Linien ist umgesetzt in ein Fest der Worte. Kafkas einleitende Ausführungen zum Verdacht gegen sich selbst gehen unbemerkt durch als Überlegungen des Jacques Austerlitz und verhelfen ihm dazu, sich aus seinen schnöden Romanverpflichtungen heraus- und in die phantastischen Ausgeburten seines Inneren hineinzubegeben.

Kerker der Erinnerung

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