Dienstag, 9. November 2010

Eiche der Erinnerung

Aus dem Schattenreich
Kommentar

Eines Nachmittags im November hatte ich den Beschluß gefaßt, nach England zurückzukehren, zuvor aber noch auf eine gewisse Zeit in meine Heimatstadt zu fahren, wo ich seit meiner Kindheit nicht mehr gewesen war. Und nun wurde ich in dem am Sonntag vollkommen verlassenen Hotel von einem solch überwältigenden Gefühl der Ziel- und Zwecklosigkeit erfaßt, daß ich, um wenigstens die Illusion einer gewissen Ausrichtung zu haben, mich auf den Weg in das Stadtinnere machte, wo ich dann allerdings planlos herumwanderte zwischen den im Verlauf der Zeit ganz und gar schwarz gewordenen Monumentalbauten aus dem vorigen Jahrhundert. Ich bin auf dieser Wanderung, während der knappen wirklich taghellen Stunden, in denen das Winterlicht die menschenleeren Straßen und Plätze durchflutete, immer wieder erschüttert gewesen von der Rückhaltlosigkeit, mit der die anthrazitfarbene Stadt die Spuren ihrer augenscheinlich chronisch gewordenen Verarmung und Degradierung dem Betrachter preisgab. Erfaßt von einer großen Niedergeschlagenheit trieb es mich heraus aus der Stadt ins freie Land, und dann war ich weiter vor die Stadt gekommen, als ich eigentlich gewollt hatte. Und als ich so weit war, trieb es mich noch weiter. Auf einer Anhöhe stand eine alte sehr große Eiche grad wie die des Vercingetorix auf Courbets mir immer besonders lieben Bild. Sie erinnerte mich irgendwie daran, daß es nun endlich aber Zeit sei, zurückzukehren. Es war schon abendlich genug geworden. Ich stand vor ihr, strich über ihre harte Rinde und las zwei eingeritzte Namen. Ich las sie, aber ohne sie mir zu merken, es war wie ein kindlicher Trotz, der mich, wenn ich schon nicht weitergehen sollte, wenigstens hier festhielt, um mich nicht zurückgehn zu lassen. Man ist manchmal im Bann solcher Kräfte, man kann ihn leicht zerreißen, es ist ja nur etwas wie ein zarter Scherz eines Fremden, aber es war Sonntag, nichts war zu versäumen, ich war schon müde und ergab mich deshalb in alles. Nun erkannte ich, daß einer der Namen Josef war und erinnerte mich eines Schulfreundes, der so geheißen hatte. In meiner Erinnerung war er ein kleiner Junge, der kleinste der Klasse vielleicht, er war einige Jahre neben mir in der gleichen Bank gesessen. Er war häßlich gewesen, selbst uns, die wir doch damals mehr Kraft und Geschicklichkeit – und beides hatte er – als Schönheit zu beurteilen verstanden, erschien er sehr häßlich.

Keine Kommentare: