Sonntag, 7. November 2010

Von der Zauberkunst

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Die letzte Nummer wurde von einem Zauberkünstler in einem nachtblauen Umhang bestritte, der aus seinem Zylinderhut einen wunderbar gefiederten Bantamhahn hervorholte, nicht viel größer als eine Elster oder ein Rabe. Offenbar völlig zahm, lief dieses farbenprächtige Federtier durch eine Art Miniaturparcours aus allerhand Treppchen, Leitern und Hindernissen, über die es hinwegsetzen mußte, gab durch das Klopfen mit dem Schnabel das richtige Resultat von Rechenexempeln wie zwei mal drei oder vier weniger eins, die der Zauberer ihm mit verschieden beschrifteten Pappdeckeln zeigte, legte sich auf ein geflüstertes Wort zum Schlaf auf die Erde nieder, seitwärts seltsamer weise und mit abgespreiztem Flügel, und verschwand schließlich wieder im Inneren des Zylinders. Nach der Vorstellung – das Licht war langsam erloschen, und unsere Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt und wir sahen an dem Zelthimmel über uns zahlreiche mit Leuchtfarbe an die Leinwand gemalte Sterne - kamen wir ins Gespräch mit dem Zauberkünstler, und er versuchte, uns die Natur seines Berufs und seiner Kunst näher zu erklären. Es sei ein Mandat. Er könne seiner Natur nach nur ein Mandat übernehmen, das niemand ihm gegeben habe. In diesem Widerspruch, immer nur in einem Widerspruch könne er leben. Aber wohl jeder, denn lebend stirbt man, sterbend lebt man. So wie zum Beispiel dieser Zirkus von einer Leinwand umspannt sei, also niemand, der nicht innerhalb dieser Leinwand ist, etwas sehen könne. Nun findet aber jemand ein kleines Loch in der Leinwand und kann doch von außen zusehn. Allerdings muß er dort geduldet werden. Wir alle werden einen Augenblick lang so geduldet. Allerdings - zweites allerdings - meist sieht man durch ein solches Loch nur den Rücken der Stehplatzbesucher. Allerdings - drittes allerdings - die Musik hört man jedenfalls, die die Zirkusleute mit ihren etwas verstimmten Instrumenten sozusagen aus dem Nichts hervorzauberten, mal wie ein längst vergessenes walisisches Kirchenlied, dann wieder, ganz leise und doch zum Schwindligwerden, die Drehung eines Walzers, ein Ländlermotiv oder das Schleppende eines Trauermarsches, wo die im letzten Geleit Gehenden bei jedem Schritt den Fuß, eh sie ihn aufsetzen, ein wenig einhalten in der Luft - die Musik also und auch das Brüllen der Tiere. Bis man endlich ohnmächtig vor Schrecken in die Arme des Polizisten zurückfällt, der von Berufs wegen den Zirkus umgeht und nur leise mit der Hand dir auf die Schulter geklopft hat, um dich auf das Ungehörige eines solchen gespannten Zusehns, für das du nichts gezahlt hast, aufmerksam zu machen. Wir konnten nicht behaupten, daß wir nach diesen Ausführungen klarer sahen in den Fragen der Zauberei, aber das war ja auch nicht zu erwarten.

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