Mein Vater führte mich zum Schuldirektor, der bekannt dafür war, daß er, wenn er nicht gerade ruhte, in seinem verstaubten Talar ohne Unterlaß, vom Morgen früh bis spät in die Nacht in den Schulgebäuden herumwanderte. Er war ein hoffnungslos zerstreuter, vollkommen geistesabwesender Mensch, und auch die übrige Lehrerschaft setzte sich zusammen aus den absonderlichsten gestalten, die größten teils über sechzig waren oder an irgendeinem Gebrechen litten. Es schien eine große Anstalt zu sein, wir durchschritten einige saalartige Räume, allerdings war alles leer. Einen Diener fanden wir nicht, wir gingen daher rücksichtlos weiter, auch waren alle Türen offen. Plötzlich zuckten wir zurück, das Zimmer, in das wir eilig eingetreten waren wie in alle früheren, war, wenn auch mit sehr wenig Möbeln, doch als Arbeitszimmer eingerichtet und auf dem Kanapee lag ein Mann. Es war, ich erkannte ihn nach Photographien, der Schuldirektor; ohne aufzustehn, forderte er uns auf, näherzutreten. Die Entschuldigungen meines Vaters wegen unseres unhöflichen Eindringens ins Direktorat hörte er mit geschlossenen Augen an, dann fragte er, was wir haben wollten. Das zu hören war auch ich neugierig, so sahen wir beide, der Direktor und ich, den Vater an. Der Vater sagte, es liege ihm daran, daß sein Sohn, jetzt achtzehn Jahre alt, in die besten pädagogischen Hände komme. Daran würde es, wie ihm versichert wurde, hier nicht fehlen. Das Schulleben in dieser Anstalt hielt sich, wie ich schon bald herausfand, mehr oder weniger von selber in Gang, eher trotz als dank der dort wirkenden Pädagogen. Es wurde bestimmt nicht durch ein wie immer dort wirkendes Ethos, sondern durch die vielen Schülergenerationen zurückreichenden Sitten und Gebräuche, von denen manche einen geradezu orientalischen Charakter hatten. Es gab die verschiedensten Formen der Großtyrannei und des Kleindespotismus, der erzwungenen Dienstleistung, der Versklavung, der Hörigkeit, der Begünstigung und des Zurückgesetztwerdens, der Heldenverehrung, des Ostrazismus, des Strafvollzugs und der Begnadigung, vermittels deren die Zöglinge, ohne jede Oberaufsicht sich selber, ja man kann sagen, die gesamte Anstalt, die Lehrer nicht ausgenommen, regierten. Für mich sind die Jahre in dieser Lehranstalt, anders als für die meisten anderen, nicht eine Zeit der Gefangenschaft, sondern der Befreiung gewesen.
Mittwoch, 10. November 2010
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