Freitag, 20. Februar 2009

Nithart

- Matthias Grünewald auch Mathis Gothart oder Nithart, ca. 1460 – 1528, ein deutscher Maler. Das schöpferische Erscheinungsbild Grünewalds ist äußerst widersprüchlich. In seinen politischen Ansichten war er offenbar ein Parteigänger der Bauernbewegung, der politische Kampf und die sozialen Widersprüche der Epoche der Bauerkriege aber spiegeln sich in seinem Werk in überspannten, phantastischen und nicht selten krankhaften Bildern. Grünewalds Werk ist in hohem Maße von Pessimismus und mystischer Exaltation gekennzeichnet und stellt bevorzugt Szenen des Todes und des Leidens &c. dar. Dabei mischt sich Grünewalds Phantastik mit realistischen Zügen, lebendigen Detailbeobachtungen und grellen volkstümlichen Abbildungen der Heiligen, des Christus und seiner Mutter Maria. Die satirische Zeichnung Dreifaltigkeit belegt Grünewalds antikatholischen Überzeugungen.

- geriet Grünewald ins Gespräch mit Sebald


Eine der vielen mit der Endlichkeit des Menschen verbundene Unannehmlichkeit ist, daß wir von unseren Dichtern nicht genug bekommen von dem, was wir brauchen. Ich habe Menschen getroffen, die, nachdem sie Antwerpen schon Hunderte von Malen mit dem Auto umfahren hatten, nach der Lektüre der ersten Seiten von Austerlitz sogleich in den Zug gestiegen sind, um den Bahnhof mit eigenen Augen zu sehen. Naturgemäß hegen sie den Wunsch, Sebald hätte Wortbilder aller Bahnhöfe der Welt in seiner Prosa hinterlassen. Eine bei weitem größere Sehnsucht noch erwecken die Bildbeschreibungen, die Zahl der Maler aber, denen Sebald nachgehen konnte, ist klein. Vorn an steht Mattias Grünewald, dessen Leben und Werk er mit Wie der Schnee auf den Alpen gleich die erste veröffentlichte dichterische Arbeit gewidmet hat. Er konnte sich dabei aufbauen auf die treffsicheren Erkundungen der Balschaja Sawjetskaja Enziklapedija, dreizehnter Band ГРОЗА bis ДЕМOС aus dem Jahre neunzehnhundertundzweiundfünfzig. Nur geringe Ergänzungen und Ausschmückungen hatte der Dichter noch zu erbringen.

Auf der linken Tafel tritt uns der hl. Georg entgegen. Zuvorderst steht er am Bildrand eine Handbreit über der Welt und wird gleich über die Schwelle des Rahmens treten. Georgius Miles, Mann mit eisernem Rumpf, erzen geründeter Brust, rotgoldenem Haupthaar und silbernen weibliche Zügen. – Die lyrische Erzählung vom Meister Grünewald Wie der Schnee auf den Alpen eröffnet mit dem Blick auf eine Lichtgestalt, es wird der einzige Einfall des Lichts bleiben. Der androgyne Georgius Miles ist offenbar auf dem Sprung, die Welt des Mittelalters zu verlassen, dessen Vertreter ihn umringen in Gestalt der heiligen Nothelfer. Die vierzehn Nothelfer schauen ein jeder in eine andere Richtung, ohne daß wir verstünden, warum. Die drei Nothelferinnen Barbara, Katharina und Margarethe hingegen stecken am Rand der linken Tafel hinter dem Rücken des Georg ihre gleichförmigen orientalische Köpfe zu einer Verschwörung gegen die Männer zusammen. Auch das Unglück der Heiligen ist ihr Geschlecht, ist die furchtbare Separation der Geschlechter. Von Grünewald wird es heißen, er habe ein melancholisches Leben geführt und sei übel verheurathet gewesen. Wie seine Bilder erweisen, hatte er ein besseres Auge für die Männer, deren Gesichter und ganze Körperlichkeit er mit unendlicher Hingabe ausfüllte, während die Frauen fast alle verhüllt sind und ihn somit der Angst entheben, genauer sie ansehen zu müssen.

Der ruhig auf seinem Podest stehende Heilige Antonius der ersten Schauseite des Altars des Antoniterklosters in Isenheim bleibt unberücksichtigt, nicht zu reden vom Engelskonzert der zweiten Schauseite, und auf der dritten Seite zieht nicht so der vor einer zerrissenen Landschaft gesetzte, aber doch in davon unberührter, maßvoller Unterhaltung mit dem Eremiten Paulus abgebildete Antonius auf der linken Tafel die Aufmerksamkeit des Dichters auf sich, als vielmehr der schlimmen Peinigungen ausgesetzte Heilige auf der rechten Tafel. Ein grausiges Monstrum schleift ihn am Schopf dahin, darüber erhebt sich eine doppelköpfige, mehrarmige Kreatur, im Begriff, dem Heiligen mit einem Kieferknochen den Garaus zu machen, Nasen, aus denen Rotz rinnt, Haar und Hörner, Haut wie nach außen gekehrtes Gekröse, dieses ist dem Maler die Schöpfung, Bild unserer irren Anwesenheit auf der Oberfläche der Erde: die Sprache verfehlt nicht die Raserei des Bildes, sondern übertrifft sie womöglich noch. 

Wie der Schnee auf den Alpen ist eine Einladung zum Aufenthalt im Mittelalter, wer wollte da nicht dem Heiligen Georg folgen und mit ihm über die Schwelle des Rahmens treten. hinaus in einen vermuteten besseren Zustand der Welt. Auch der Maler des Georg weiß, der alte Rock reißt, fürchtet sich aber vor der Neige der Zeit.

Bei Grünewald begegnen sich die Heiligen Georg und Antonius nicht, Pisanello aber hat das Zusammentreffen der beiden festgehalten: Das kleine, vielleicht 30 mal 50 Zentimeter messende Bild ist in der oberen Hälfte fast ganz ausgefüllt von einer aus dem Himmelsblau hervorstrahlenden goldenen Scheibe, die als Hintergrund dient für eine Darstellung der Jungfrau mit dem Erlöserkind. Darunter zieht sich von einem Bildrand zum andern ein Saum dunkelgrüner Baumwipfel. Zur Linken steht der Patron der Herden, Hirten und Aussätzigen, der hl. Antonius. Er trägt ein tiefrotes Kapuzenkleid und einen weiten erdbraunen Umhang. In der Hand hält er eine Schelle. Ein zahmer, zum Zeichen der Ergebenheit ganz an den Boden geduckter Eber liegt ihm zu Füßen. Mit strengem Blick sieht der Eremit auf die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben bereits ausgehaucht. Die aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung versammelt auf sich allen Abendschein. Nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt auf das jugendliche Gesicht Georgs. Schutzlos sind Nacken und Hals dem Betrachter preisgegeben. Das ganz Besondere aber an diesem Bild ist der außergewöhnlich schön gearbeitete, weitkrempige und mit einer großen Feder geschmückte Strohhut, den der Ritter auf dem Kopf hat. Ich wüßte gern, wie Pisanello auf den Gedanken gekommen ist, den heiligen Georg ausgerechnet mit einer solchen, angesichts der Umstände eigentlich unpassenden, ja geradezu extravaganten Kopfbedeckung auszustaffieren. San Giorgio con cappella di paglia — sehr verwunderlich, wie vielleicht auch die beiden guten Pferde sich denken, die dem Ritter über die Schulter blicken.

Zur Linken die alte Welt in dunklem Gewand und mit strengem Blick, rechts San Giorgio im Licht mit den ausdrücklichen Merkmalen der herzbewegenden Weltlichkeit und der schutzlosen Unschuld. Das Böse hat sein Leben ausgehaucht. Die Jungfrau mit dem Erlöserkind verbleibt im Schwebezustand darüber. Ein Augenblick der Ausgewogenheit, wie ihn die Prosa Sebalds thematisch immer wieder anstrebt und sprachlich dauerhaft aufrecht erhält, der aber den thematisierten historischen Augenblick nicht überleben kann. Auf Rembrandts Prosekturbild Die anatomische Vorlesung des Dr. Nicolaas Tulp müssen wir erkennen, wie das Neue das Alte unerkannt mit sich fortschleppt: Zweifellos handelte es sich einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus.

Der Maler Aurach, der, anders als Selysses, die Fortführung und Steigerung des archaischen Grauens am eigenen Leibe erfahren hat, erkennt die extremistische, eine jede Einzelheit durchdringende, sämtliche Glieder verrenkende und in den Farben sich wie eine Krankheit ausbreitende Weltsicht dieses seltsamen Mannes Grünewald als ihm selbst von Grund auf gemäß. Vom Heiligen Georg und seiner Weltbalance ist dabei nicht mehr die Rede, sondern nur von der Ungeheuerlichkeit des Leidens, das, ausgehend von den vorgeführten Gestalten, die ganze Natur überzog, um aus den erloschenen Landschaften wieder zurückfluten in die menschlichen Todesfiguren.


Es heißt, Sebald habe seine Vornamen gehaßt und daher als Dichter mit W.G. firmiert und im Privaten auf Max zurückgegriffen. Um den Namen Winfried mag es bestellt sein, wie es will, Georg aber, auf den nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt, ist der ihm zugefallene Identifikationspunkt und wandert als Emblem der Hoffnung durch das Werk.

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