Montag, 13. Oktober 2008

Lehrer

Kaum Schüler, keine Kinder

Hurt once and for all into silence.
A long pain ending without a song to prove it.
Über Sebalds Leben ist wenig bekannt in der Öffentlichkeit, er wurde im Allgäu geboren, war nach der Einschulung, wie die meisten von uns, längere Jahre Schüler auf den verschiedenen Stufen des Bildungswesens und dann lange Zeit Hochschullehrer in England, wo er auch, noch im Lehramt wenngleich wohl schon mit dem Gedanken, es aufzugeben, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Eigentlich hatte er sich aber bereits auf spektakuläre Weise aus dem Lehrberuf verabschiedet, denn längst wissen wir ja, daß der Dichter, anders als früher angenommen, der Antipode des Lehrers ist. Aber muß man Dichter werden, um als Hochschullehrer kein Lehrer zu sein?

Der sebaldnahe Erzähler des Austerlitzbuches, Selysses, bekennt: Zu Beginn meines Studiums in Deutschland hatte ich von der seinerzeit dort amtierenden, größtenteils in den dreißiger und vierziger Jahren in ihrer akademischen Laufbahn vorangerückten und immer noch in ihren Machphantasien befangenen Geisteswissenschaftlern so gut wie gar nichts gelernt (AUS 51f). Dieser Student zumindest hatte keine Lehrer an den Hochschulen. Eingangs des Saturnbuches werden liebevoll zwei Hochschullehrerportraits gezeichnet. Michael Parkinson zeichnete sich aus durch eine Bedürfnislosigkeit, von der manche behaupteten, daß sie ans Exzentrische grenzte. In der Sommervakanz machte Michael regelmäßig lange, mit seinen Ramuzstudien in Verbindung stehende Reisen zu Fuß durch das Wallis und das Waadtland. Oft, wenn er von einer solchen Reise zurückkam oder wenn ich den Ernst bewunderte, mit dem er stets seine Arbeit verrichtete, schien es mir, als habe er, auf seine Weise das Glück gefunden in einer inzwischen kaum mehr denkbaren Form von Bescheidenheit (RS 15). Janine Rosalind Darkyns wird in ihrem Arbeitszimmer von Papier überwuchert. Vor Jahren bereits war Janine von den immerfort anwachsenden Papiermassen auf ihrem Schreibtisch gezwungen gewesen, an andere Tische auszuweichen. Diese Tische, auf denen sich in der Folge ähnliche Akkumulationen vollzogen hatten, repräsentierten sozusagen spätere Zeitalter in der Entwicklung des Papieruniversums Janines (RS 18). Janine Darkyns ist Romanistin und vor allem Flaubertforscherin: In einem Sandkorn im Saum eines Winterkleides der Emma Bovary hat Flaubert die ganze Sahara gesehen, und jedes Stäubchen wog für ihn soviel wie das Atlasgebirge (RS 17).

Zwei Hochschullehrer, wie es scheint, ohne Schüler, jedenfalls bleiben sie unsichtbar. Oder macht das den wahren Hochschullehrer aus, die einsame geistige Leidenschaft, die die Schüler aus der Distanz mitreißt? Wir wären nahe beim traditionellen deutschen Hochschulideal, das in diesen Tagen gerade in den Gully gegossen wird. Austerlitz hat eine Dozentur inne an einem Londoner kunsthistorischen Institut, die er dann für seine privaten Recherchen aufgibt. Für den Austerlitzerzähler wird er seit seiner Volksschulzeit der erste Lehrer überhaupt, dem er zuhören konnte. Es ist mir bis heute gegenwärtig, mit welcher Leichtigkeit seine von ihm sogenannten Denkversuche mir eingingen (AUS 52). Hier ist eine Lehrer-/Schülerkonstellation ganz ohne pädagogisches Gefälle dargestellt, während der ebenfalls angesprochenen Volksschulzeit muß es ein wenig anders gewesen sein.

Die Volksschulzeit ist in der Erzählung Paul Bereyter festgehalten. Er ist einfach zum Unterrichten von Kindern geboren gewesen – ein echter Melammed, der aus einem Nichts heraus die schönsten Schulstunden halten konnte (AW 83). Die Unterrichtsmethodik entspricht weitgehend dem, was auch die neuere Pädagogik empfiehlt: Offene Fenster, frische Luft, Anschauungsunterricht, Förderung der Schwachen, das letztere allerdings in unorthodoxer Form: Nach einem stillschweigenden Blickwechsel führte ich geschwind sein fragmentarisches Werk zu Ende, wie ich in den zwei Jahren, die wir von diesem Tag an noch nebeneinander saßen, einen Gutteil seiner Rechen-, Schreib- und Zeichenarbeiten erledigt habe. Der Paul hat an unserer Kooperation nichts auszusetzen gehabt (AW 47). In der Erzählung fließen diese Unterrichtselemente freilich unmittelbar aus der Empathie des Paul Bereyter: auch wir in der Schule hatten ausschließlich nur vom Paul gesprochen wie von einem vorbildlichen ähnlichen Bruder (AW 43), - während die offizielle Pädagogik die gleichen Elemente als technisierbar und persönlichkeitsunabhängig verstehen muß.

Im Austerlitzbuch finden wir Paul Bereyter wieder, zum Sekundarschullehrer avanciert und unter dem Namen André Hilary. Die walisische Erziehungsanstalt, in die Dafydd Elias geschickt wird, heißt Stower Grange, der Direktor, ein gewisser Penrith-Smith, der in seinem verstaubten Talar ohne Unterlaß, vom Morgen früh bis spät in die Nacht ziellos in den Schulgebäuden herumwanderte, war ein hoffnungslos zerstreuter, vollkommen geistesabwesender Mensch, und auch die übrige Lehrerschaft setzte sich zusammen aus den absonderlichsten Existenzen, die größtenteils über sechzig waren oder an irgendeinem Gebrechen litten. Das Schulleben hielt sich mehr oder weniger von selber in seinem Gang, eher trotz als dank der in Stower Grange wirkenden Pädagogen (AUS 88f). Dem jungen Dafydd Elias alias Austerlitz taugt dieser Stand der Dinge alles in allem nicht wenig, gleichwohl aber ist auch André Hilary ungemein wichtig für ihn. Hilary ist von einer ähnlichen pädagogischen Leidenschaft beseelt wie Bereyter, die sich freilich, dem Wechsel von Primar- zur Sekundarschule entsprechend, schon weniger auf die Zöglinge als auf den Unterrichtsstoff richtet und daher eher, fast schon wie bei den beiden Hochschullehrern, als wissenschaftliche Leidenschaft zu charakterisieren ist. Die Empathie für seine Schüler ist allerdings nicht geringer als die des Paul Bereyter. Im Fokus der wissenschaftlichen Leidenschaft Hilarys befindet sich die Gestalt Napoleons, das Glanzstück war dabei zweifellos die Schlacht von Austerlitz. Den meisten von uns haben sich die von Hilary gehaltenen Geschichtsstunden nicht zuletzt deshalb tief eingeprägt, weil er des öfteren, wahrscheinlich wegen eines Bandscheibenleidens, an dem er laborierte, auf dem Rücken am Fußboden liegend seinen Stoff vortrug, was wir in keiner Weise als komisch empfanden, denn Hilary sprach gerade dann mit besonderer Deutlichkeit und Autorität (AUS 106). Das Liegen am Boden symbolisiert offenbar unter anderem eine Umkehr der pädagogischen Situation, die gleichwohl unbeschadet fortbesteht.

Grundschule, Sekundarschule, Hochschule: Das allmähliche und möglichst schleunige Schwinden der Pädagogik als Grundvoraussetzung einer humanen Existenz, durchaus kein umstürzlerisches Konzept, sondern eher das, was alle dachten, bevor es dann ganz anders kam und letztendlich zum Transfer der einzig verbleibenden seriösen Strafandrohung aus dem Justiz- in das Bildungssystem im Begriff des Lebenslangen Lernens, ohne Schuld, ohne Proceß und ohne Vergebung, so wie Kafka es sich schon gedacht hatte.

Pädagogische Theorien sind aber nicht die Aufgabe der Dichter und nicht das Interesse ihrer Leser, wir müssen die Angelegenheit noch um einiges tiefer legen. Lehrer stehen zwischen den Generationen, den Eltern und den Kindern, und ein nicht geringer Teil ihrer Aufgabe besteht darin, den sich unweigerlich auftuenden Bruch zu mildern. Sebald selbst, dafür gibt es zahlreiche Hinweise im Werk, hat den Bruch besonders heftig erlebt, umso wichtiger wurden ihm Großvater und Lehrer. Austerlitz hat dreifache Eltern, die paradiesischen in Prag, die es gilt, aus der Erinnerung rückzugewinnen und dort zu bannen, die gutmeinenden, auf ihre Art aber höllischen Pflegeeltern in Bala, Wales, und die wiederum paradiesische Adela, Herrin von Andromeda, die freilich angesichts ihres geringen Altervorsprungs zwischen Mutter und Geliebter changiert.

Nicht zuletzt bedingt durch den gewaltigen Generationsbruch zwischen Kriegs- und Nachkrieggeneration ist die Prokreation in Sebalds Werk praktisch zum Erliegen gekommen. Das ist besonders auffällig beim Lehrpersonal, das von seiner Aufgabe her in besonderem Maße auf die jeweils nächste Generation angewiesen ist, damit aber auch besonders tief in den Verhängniszusammenhang gerät, und bei Sebald an seiner Aufgabe verzagen muß. Michael Parkinson und Janine Rosalind Darkyns sind als Erzählfiguren, wie immer es um ihre realen Vorbilder bestellt gewesen sein mag, kinderlos. Bereyters Leben schien auf die Verbindung mit Helen Hollaender aus Wien und eine traditionelle Familiengründung zuzulaufen, das Dritte Reich ließ es dann aber nicht zu. Bei Austerlitz hätte sich allenfalls die „Adoption“ Geralds noch enger gestalten lassen können. Beide, Austerlitz und Bereyter, sind im weiteren Verlauf mit einer „vornehmen Französin“ in der Tradition des Minnesangs liiert, Damen, die zugleich aber über die unerläßliche Erdenschwere verfügen. Die eine heißt Marie de Verneuil und kommt aus dem französischen Kernland, die andere ist Mme. Landau aus der Welschschweiz. Das Thema der Lady in Distress ist auf den Kopf gestellt, die Ritter sind in Not und die Damen können lindern aber nicht wirklich helfen. Im Austerlitzbuch kommt es in Marienbad zu einer Nacht in Liebe, unklar bleibt, ob es eine Liebesnacht im üblichen Sinne wurde. In Marienbad ist selbst Goethe, wenn auch wider sein Erwarten und Hoffen, unfruchtbar geblieben, nach Sebalds Einschätzung im übrigen auch als Literat: Die berühmte drei & zwanzigstrophige Elegie, mir aber wollte es nicht recht gefallen, dies herrliche Geflecht verschlungener Minnen (LW 81). Nur wenig entfernt, in der nordböhmischen Stadt Dux, im Schloß des Grafen Waldstein wird ein anderer Roué und wahrer Priap der beginnenden Moderne in traurig sterilem Zustand aufgefunden: Die Puderperücke hatte er beiseite gelegt, und sein eigenes, schütteres Haar schwebte als Zeichen gewissermaßen der Auflösung seiner Körperlichkeit, wie ein kleines weißes Wölkchen über seinem Haupt. Die linke Schulter ein wenig hochgezogen schrieb er ununterbrochen fort. Man hörte nichts als das Kratzen der Feder, das nur aussetzte, wenn der Schreiber ein paar Sekunden lang aufschaute und die wäßrigen, für die Ferne schon halb blinden Augen nach der Helligkeit richtete (AUS 292). Die Helligkeit schlägt unvermittelt um in das Dunkel der Vernichtung: Nur an der nachtfahlen Seite des Firmaments zeigten sich ein paar Sterne, rußig blakende Lichter. Südwärts, in einem weiten Halbrund, erhoben sich die Kegel der erloschenen böhmischen Vulkane, von denen ich in diesem böhmischen Traum wünschte, daß sie ausbrechen und alles ringsum überziehen möchten mit schwarzem Staub (AUS 293f).

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