Samstag, 6. November 2010

Der rätselhafte Sarg

Aus dem Schattenreich
Kommentar

In jeder freien Stunde bin ich bei E., dem Sargtischler gesessen, der in dem Ruf stand, ein Geisterseher zu sein. Im Gegensatz zum Prediger, der Krankheit und Tod immer in Zusammenhang brachte mit Prüfung, gerechter Strafe und Schuld, erzählte der Sargtischler von Verstorbenen, die das Los zur Unzeit getroffen hatte, die sich um ihr Teil betrogen wußten und danach trachteten, wieder ins Leben zurückzukehren. Wer ein Auge für sie habe, der könne sie nicht selten bemerken. Auf den ersten Blick sähen sie aus wie normale Leute, aber wenn man sie genauer anschaute, verwischten sich ihre Gesichter oder flackerten ein wenig an den Rändern. Fast immer gingen die Toten alleine, doch zögen sie manchmal auch in kleinen Schwadronen herum; in bunten Uniformröcken oder in graue Umhänge gehüllt habe man sie schon gesehen, wie sie zwischen den Feldmauern, die sie nur knapp überragten, mit leisem Rühren der Trommel aufmarschierten. Einerseits faßten mich diese Erzählungen kalt ans Herz, andererseits wollte ich sie nicht recht glauben, die wohl unglaublichste Geschichte aber handelte von einem untoten Toten, ohne daß es einen Verstorbenen gegeben hätte, und er selbst, der Sargtischler, hatte sie erlebt. Er hatte einen Sarg fertiggestellt und auf den Handwagen geladen, um ihn in das Sarggeschäft zu schaffen. Es war regnerisch, ein trüber Tag. Aus der Quergasse kam ein alter Herr heran, blieb vor dem Sarg stehn, strich mit dem Stock über ihn hin und begann mit dem Tischler ein kleines Gespräch über die Sargindustrie. Eine Frau mit einer Markttasche, die die Hauptgasse herabkam, stieß ein wenig gegen den Herrn, erkannte ihn dann als guten Bekannten und blieb auch für ein Weilchen stehn. Aus der Werkstatt trat der Gehilfe und hatte wegen seiner weiteren Arbeiten noch einige Fragen an den Meister zu richten. In einem Fenster über der Werkstatt erschien die Tischlersfrau mit ihrem Kleinsten auf dem Arm, der Tischler begann von der Gasse her den Kleinen ein wenig zu necken, auch der Herr und die Frau mit der Markttasche sahen lächelnd aufwärts. Ein Spatz, in dem Wahn hier etwas Eßbares zu finden, war auf den Sarg geflogen und hüpfte dort auf und ab. Ein Hund beschnupperte die Räder des Handwagens. Da klopfte es plötzlich von innen stark gegen den Sargdeckel. Der Vogel flog auf und kreiste ängstlich über dem Wagen. Der Hund bellte wild, er war der Aufgeregteste unter allen und als sei er verzweifelt über seine Pflichtversäumnis. Der Herr und die Frau waren zur Seite gesprungen und warteten mit ausgebreiteten Händen. Der Gehilfe hatte sich in einem plötzlichen Entschluß auf den Sarg geschwungen und saß schon oben, dieser Sitz erschien ihm weniger schrecklich als die Möglichkeit, daß der Sarg sich öffne und der Klopfer hervorsteige. Übrigens bereute er vielleicht schon die voreilige Tat, nun aber, da er oben war, wagte er nicht herunterzusteigen und alle Mühe des Meisters ihn herunterzutreiben war vergeblich. Die Frau oben im Fenster, die das Klopfen wahrscheinlich auch gehört hatte, aber nicht hatte beurteilen können, woher es kam, und jedenfalls nicht auf den Gedanken verfallen war, es könnte aus dem Sarge kommen, verstand nichts von den Vorgängen unten und sah erstaunt zu. Ein Schutzmann, von einem unbestimmten Verlangen angezogen, von einer unbestimmten Angst abgehalten, schlenderte zögernd heran. Da wurde der Deckel mit solcher Kraft aufgestoßen, daß der Gehilfe zur Seite glitt, ein kurzer gemeinsamer Aufschrei aller ringsherum erfolgte, die Frau im Fenster verschwand, offenbar raste sie mit dem Kind die Treppe herab.


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