Freitag, 12. November 2010

Winterbuch

Aus dem Schattenreich
Kommentar
Ein junger Student wollte an einem Abend im Januar zur Zeit der großen Gesellschaften seinen besten Freund, den Sohn eines hohen Staatsbeamten, aufsuchen. Auf dem Weg glitzerten um ihn her die Kristalle im Schnee, und es glitzerten über ihm in ihrer Unzahl die Sterne am Himmel. Der kopflose Riese Orion mit dem kurzen funkelnden Schwert im Gürtel stieg soeben hinter den blauschwarzen Schatten der Berge herauf. Er wollte dem Freund ein Buch zeigen, das er gerade las und von dem er ihm auch schon viel erzählt hatte. Es war ein schwer verständliches Buch über die Grundzüge der Geschichte der Volkswirtschaft, man konnte nur schwer folgen. Sein Vater, der gar nie auf den Gedanken gekommen wäre, ein Buch dieser Art zu lesen, hatte es in einer Anwandlung von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft. Der Autor hielt sein Thema, wie es in einer Kritik sehr bezeichnend hieß, an sich gedrückt wie der Vater das Kind, mit dem er durch die Nacht reitet. Trotz aller Schwierigkeit verlockte es aber den Studenten sehr; wenn er eine zusammenhängende Stelle durchdrungen hatte, fühlte er einen großen Gewinn; nicht nur die gerade vorgetragene Ansicht, sondern alles ringsherum schien ihm einleuchtender, besser bewiesen und widerstandskräftiger. Einigemal auf dem Weg zu seinem Freund blieb er unter einer Laterne stehn inmitten der Winterpracht stehen, horchte auf das Klirren der Kälte und das Klingen der Himmelslichter in ihrer langsamen Bahn und las bei dem durch Schneenebel gedämpften Licht einige Sätze. Große, seine Fassungskraft übersteigende Sorgen bedrückten ihn, das Gegenwärtige war zu erfassen, die vor ihm liegende Aufgabe aber erschien ihm undeutlich und ohne Ende, vergleichbar nur seinen Kräften, die er ebenso und noch nicht aufgerufen in sich fühlte. Er dachte an den Wunsch, den er als Kind immer gehabt hatte, daß alles zuschneien möge, die ganze Stadt und das Tal bis zu den obersten Höhen hinauf, und daran, daß er sich vorstellte damals, wie es wäre, wenn wir im Frühjahr wieder auftauten und hervorkämen aus dem Eis. Jetzt fragte er sich, ob nicht eine äußere und inwendige Vereisung und Verödung am Ende die Voraussetzung dafür sei, daß man, vermittels einer Art schwindelhafter Schaustellerei die Welt und sich selbst glauben machen könne, das arme Herz stünde in Flammen, jeder Aufgabe gewachsen.

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