Kommentar
Ein böses Wort, ein schiefer Blick genügte oft, um die Rituale der Blutrache ins Rollen zu bringen. Selbst die unter Anwesenheit zweier sich befehdender Parteien oftmals gelesenen Versöhnungsmessen endeten nicht selten damit, daß man sich gleich nach dem Gottesdienst wieder Beleidigungen an den Kopf warf. In gewissem Sinne wurde der hohe Blutzoll der fortwährenden Rachefeldzüge dadurch relativiert, daß die Toten einigermaßen unbeirrt weiterlebten. Überall zogen sie herum, in kleinen Banden und Gruppen und manchmal in regelrechten Regimentern. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie normale Leute, aber sowie man genauer hinschaut, verwischen sich ihre Gesichter oder flackern, gerade wie die Gesichter der Schauspieler in einem alten Film. Diesem ungewöhnlichen, uns jedenfalls in dieser Form nicht vertrauten Verhalten der Toten korrespondieren die ebenso aufwendigen wie zweideutigen Klage- und Bestattungssitten; zweideutig, denn nicht nur beschränkt sich die Kundgebung der ewig währenden Untröstlichkeit der Hinterbliebenen auf das absolute Minimum, sondern sie wirkt fast wie ein den Toten nachgesandtes Schuldbekenntnis, wie eine halbherzige Bitte um Nachsicht an diejenigen, die man vor der Zeit unter die Erde gebracht hat. Das alles hatte mich offenbar so tief beeindruckt, daß auch ich in der Nacht bei den Toten zu Gast war. Es war eine große reinliche Gruft, einige Särge standen schon dort, es war aber noch viel Platz, zwei Särge waren offen, es sah in ihnen aus wie in zerwühlten Betten, die eben verlassen worden sind. Ein Schreibtisch stand ein wenig abseits, so daß ich ihn nicht gleich bemerkte, ein Mann mit mächtigem Körper saß hinter ihm. In der rechten Hand hielt er eine Feder, es war, als habe er geschrieben und gerade jetzt aufgehört, die linke Hand spielte an der Weste mit einer glänzenden Uhrkette und der Kopf war tief zu ihr hinabgeneigt. Eine Bedienerin kehrte aus, doch war nichts auszukehren. Nach der eher ungut verlaufenen Nacht begab ich mich am darauffolgenden Tag auf eine Exkursion ins Innere der Insel und verspürte, trotz der wahrhaft staunenswerten Schönheit der Ansichten, die sich mir boten, in der Herzgegend eine dumpfe, allmählich die Sinne abtötende Bedrängnis, eine Art Weltverlassenheit, die, wie ich glaube, herrührt von der in zunehmenden Maße in einen Zustand der Sprachlosigkeit mich versetzenden, überall offenbaren Gewalt der lebendigen Natur.
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